Wehrhafte Toleranz
Wehrhafte Toleranz

Die Widersprüche der Toleranz werden sich so weit zu spitzen, bis die Toleranz selbst zur Intoleranz wird.
Das Wort „Toleranz“ kommt von dem lateinischem „tolerare“ und bedeutet wörtlich „erdulden“ oder „ertragen“.
„Toleranz ist eine Tugend, die den Frieden ermöglicht, und trägt dazu bei, den Kult des Krieges durch eine Kultur des Friedens zu überwinden“, schreibt die deutsche UNESCO-Kommission.
Das bürgerliche Verständnis der Toleranz scheint fast mit Harmonie und Frieden gleichgesetzt werden zu können – Toleranz ist die „Kultur des Friedens“ und Intoleranz der „Kult des Krieges“.
Toleranz bedeutet also, sein miteinander zu erdulden und zu ertragen, bis irgendwann so lange ertragen wurde, dass der Kult des Krieges einfach zerbricht.
Was jedoch, wenn die „Kultur des Friedens“, die Kultur der gelebten Toleranz, dadurch gestört wird, dass die Toleranz selbst ihre Grenzen überschreitet.
Denn die Toleranz negiert sich früher oder später selbst; toleriert man die Intoleranz, erduldet man die Unduldsamkeit, „werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen“.
Popper und die AfD
Der britische Philosoph und Erkenntniswissenschaftler Karl Popper, der selbst als demokratischer Pluralist und (gemäßigter) Sozialist jüdischer Abstammung große Teile seiner Familie in der Shoah verlor, setzte sich 1944 intensiv mit dem Widerspruch der Toleranz auseinander:
„Uneingeschränkte Toleranz führt mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz.
Denn wenn wir die unbeschränkte Toleranz sogar auf die Intoleranten ausdehnen, wenn wir nicht bereit sind, eine tolerante Gesellschaftsordnung gegen die Angriffe der Intoleranz zu verteidigen, dann werden die Toleranten vernichtet werden und die Toleranz mit ihnen.“
Poppers bekanntes Schreiben „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“, über eben dieses „Paradox der Toleranz“, wird seither, trotz seiner Aussagekraft, wie es scheint, nicht richtig verstanden, geschweige denn ernst genommen. Ex-FdP-Mitglied und späterer (nun ebenfalls ausgetretener) AfD-Pressesprecher für den bayerischen Landesverband schreibt in dem Blog „starke Meinungen“ über oben aufgeführtes Zitat von Popper folgendes:
„Zur Meinungsfreiheit gehört es, Rechtsradikale ebenso zu ertragen wie Steinzeitkommunisten.
Solange politische Sektierer keine Handlungen unternehmen, die demokratische Ordnung zu beseitigen, braucht der Rechtsstaat nicht tätig werden. (…) Im Übrigen ist die Anmaßung, selbst besser zu wissen als der Verfassungsschutz, ob und wie Höcke zu beobachten ist, auch deshalb absurd, weil der Verfassungsschutz keineswegs untätig ist, was radikal rechte Bewegungen angeht.“
Diese unheimliche Ignoranz, verbunden mit Überheblichkeit, Hufeisentheorie und ein naives Vertrauen in den Staat, die sich in dieser stark (blöden) Meinung manifestiert, ist zwar gruselig, aber klar repräsentativ für das bürgerliche und herrschende Verständnis von Toleranz und Demokratie.
Ich behaupte sicher, dass es nicht zur Meinungsfreiheit gehört, Rechtsradikale zu tolerieren.
Ich behaupte auch, das Höcke ein Faschist ist und dem BfV selbstverständlich nicht zu vertrauen ist. Diese Dinge kann ich behaupten, weil wir in Deutschland eine größtenteils freie Meinungsäußerung haben, die es zu verteidigen gilt.
Duldet man aber, wie Popper sagt, die Unduldigkeit der Feinde der Toleranz, werden diese „mit Notwendigkeit“ das „Verschwinden der Toleranz“ herbeiführen.
Dulden wir Rechtsradikale, also ausgesprochene Feinde unserer Toleranz, öffnen wir den Fascho-Kräften in diesem Land praktisch die Tür für unser gemeinsames verderben.
Wehrhafte Toleranz – Lina E.
Wenn der Staat wieder und wieder versagt, die Toleranz gegen die Intoleranz durch Rechte zu verteidigen, dann frage ich: Ist militante Intoleranz gegenüber Nazis nicht das strengste Manifest der gelebten Toleranz selbst?
Wenn der Staat, insbesondere im Osten, längst selbst ein rechter Staat ist, das BfV den NSU mitfinanziert hat und dessen Helfer André Eminger, Helfer also für 10 feige rassistische Morde, geringer bestraft als Lina E.-Helfer Jonathan M., dann muss sich für jeden an der Toleranz interessierten Menschen die Frage stellen, wie wichtig ihm diese Toleranz und wie geheuer ihm dieser Staat ist.
Das heuchlerische Geschwafel der bürgerlichen Medien rund um Deutschlands Pflicht zur Verurteilung Linas, da die BRD nun mal ein Rechtsstaat sei, zeugt von einem naiven Nazi-apologetischem Dogmatismus bzgl. des Verständnisses eines Rechtsstaates selbst.
Wir haben in Deutschland 33.900 Rechtsextreme und da diese Zahl ironischerweise vom BfV kommt, kann zweifelsohne von mindestens 50.000 ausgegangen werden. Der deutsche Rechtsstaat hat seit 1990 219 Tote durch rechte Gewalt mitzuverantworten.
Der durch die Verurteilten um Lina verletzte Nazi (Leon Ringl) plante den Schritt zum Terrorismus durch die Rassenkrieg propagierende „Atomwaffen Division“ – wäre ohne Lina wohl der 220. Tote möglich gemacht worden? Eine wehrhafte Demokratie braucht die wehrhafte Toleranz; wehrhafte Toleranz bedeutet, sich gegen Intoleranz zu wehren. Solidarität mit den Verteidiger*innen der Toleranz.