Teil 1: Einleitung, Ist China sozialistisch?
Einleitung: Ist China sozialistisch?

In seiner Rede auf dem 20. Parteitag der kommunistischen Partei Chinas (KPCh), welcher vom 16. Bis 22. Oktober 2022 stattfand, sagte Staatspräsident und Generalsekretär der KPCh, Xi Jinping:
“Die Praxis in China hat uns gelehrt, dass die Erfolge, die unsere Partei bei der Umsetzung des Sozialismus chinesischer Prägung erzielt hat, im Grunde genommen drauf zurückzuführen sind, dass der Marxismus (…) in China funktioniert.“
Marxismus in China? Das Land, welches in seiner Anzahl an Milliardären nur von der Vereinigten Staaten übertroffen wird? Allein in Beijing gibt es 12 Gucci-Boutiquen, das hört sich nun wirklich nicht nach dem Sozialismus an, von dem Marx sprach.
Wenige Themen sind unter Linken heute so kontrovers diskutiert wie die Frage des chinesischen Sozialismus.
Für viele Kritikerinnen und Kritiker endete die sozialistische Entwicklung Chinas bereits 1976 mit dem Tod Mao Tse-tungs – der Machtantritt Deng Xiaopings leitete ihrer Ansicht nach einen grundlegenden Bruch mit dem revolutionären Sozialismus an sich ein.
Dengs Politik der „Reform und Öffnung“ – also die Einführung von Marktelementen, die Zulassung von Privatbesitz, ausländischen Investitionen und Sonderwirtschaftszonen – wird aus dieser Perspektive als kapitalistischen Wideraufbau gedeutet.
Die wachsende soziale Ungleichheit, die Entstehung einer reichen städtischen Elite und der Ausschluss breiter Bevölkerungsschichten vom neu geschaffenen Wohlstand gelten als Belege dafür, dass die Volksrepublik spätestens ab den 1980er Jahren einen kapitalistischen Entwicklungspfad eingeschlagen hat.
Auch die politische Struktur wird kritisiert: Der chinesische Staat erscheint in dieser Sichtweise nicht als sozialistischer Arbeiterstaat, sondern als autoritäres Regime, nicht grundlegend verschieden von bürgerlichen autoritären Staaten anderswo – und sei in sowjetischer Manier zu einem staatskapitalistischen, gar imperialistischen Großreich des Kapitals verkommen.
Demgegenüber steht eine andere Interpretation, die insbesondere in antiimperialistischen oder global-südlichen linken Strömungen vertreten wird.
Diese verteidigt die These, dass die Reformpolitik unter Deng keine Abkehr vom Sozialismus darstellt, sondern vielmehr eine pragmatische Anpassung an die historischen und ökonomischen Bedingungen – der Sozialismus wird hier nicht als fertiges Endstadium verstanden, sondern als ein langfristiger Prozess, der unterschiedliche Phasen durchläuft – auch unter Nutzung marktwirtschaftlicher Mittel.
Tatsächlich hält die chinesische Verfassung weiterhin am Prinzip des sozialistischen Volkseigentums fest – die strategisch wichtigen Wirtschaftsbereiche wie Energie, Banken, Verkehr und Militärindustrie befinden sich größtenteils in staatlicher Hand.
Der Staat spielt eine zentrale Rolle in der wirtschaftlichen Steuerung, etwa durch Fünfjahrespläne, gezielte Industriepolitik und umfassende Entwicklungsprogramme.
Die Erfolge in der Armutsbekämpfung, der technologischen Modernisierung und der Infrastrukturentwicklung werden von dieser Seite als Beleg dafür gewertet, dass China weiterhin einen eigenständigen sozialistischen Weg verfolgt, und dieser der Methodik entspricht, dass der Sozialismus, bzw. dessen Aufbaus, sich auf Grundsatz der jeweiligen materiellen Bedingungen unterscheidet.
Ist das heutige China also wirklich sozialistisch? Befindet sich das heutige China in einer Phase des „sozialistischen Aufbaus“?
Mit dieser Frage des chinesischen Sozialismus werden wir uns in dieser Themenreihe beschäftigen:
Wir werden uns dabei auf 5 Teile beschränken; das Thema selbst ist jedoch ungemein komplex und lässt sich nicht binär mit Ja oder Nein beantworten – deshalb werden wir uns auf die Kernaspekte des chinesischen Systems konzentrieren, um die Frage nach dem chinesischen Sozialismus möglichst schlüssig zu beantworten.
Wir werden versuchen, einige oft missverstandene Aspekte des chinesischen Systems in einen theoretischen Kontext zu stellen und damit einige Leitideen der chinesischen Entwicklung näher zu bringen.
Wir werden in diesem Essay keine Grundsätze des Marxismus näher erläutern, da wir das schon Vorhandensein dieser als notwendiges Fundament für eine kritische Diskussion um den Sozialismus in China sehen.
Angesichts der stetig wachsenden Rolle, welche die Volksrepublik auf der Weltbühne einnimmt, ist eine konkrete, informierte Meinung bzgl. China zweifelsohne von großer Wichtigkeit für einen Jeden, und schon gerade für eine jede SozialistIn:
“Wer sind unsere Feinde? Wer sind unsere Freunde? Das ist eine Frage, die für die Revolution erstrangige Bedeutung hat.“ (Mao, Über die Klassen der chinesischen Gesellschaft, 1926)