Teil 2: Lenin im Doppelpack

Teil 2: Lenin im Doppelpack
The man, the myth, the legend; Wladimir Iljitsch Lenin.

Der zweite Teil der China-Reihe dreht sich um den leninschen Grundsatz für den chinesischen Sozialismus, die Neue Ökonomische Politik.


Die Debatte um sozialistische Aufbauprozesse ist so alt, wie der real existierende Sozialismus selbst:
Von Havannas Marktreformen 2021, über die Vietnamesische “Doi Moi” (“Politik der Erneuerung”) 1986 und die jugoslawische “sozialistische Marktwirtschaft” unter Tito – verschiedene Staaten und Sozialismen bedienten sich immer wieder, mehr oder weniger erfolgreich, an Marktmechanismen beim Aufbau ihrer jeweiligen Produktion.
Das bedeutendste und historisch erste Beispiel für solch einen Rückgriff auf das Wertgesetz ist Lenins “Neue Ökonomische Politik” (NÖP) welches die Bolschewiki nach Ende des “Kriegskommunismus” 1921 etablierten.
Nach Jahren des Bürgerkrieges und mangelhafter Entwicklung der Produktionskraft unter dem Zaren im vorherigen Jahrhundert, fanden sich die Bolschewiki nach der Revolution in einem von extremem Hunger, Armut und von imperialistischer Aggression bedrohtem Staat wieder.
Lenin war sich bewusst, dass die materiellen Grundsätze nicht bereit waren, um den Sozialismus auf direktem Wege zu verwirklichen, da der Widerspruch zwischen den unterentwickelten Produktionsmitteln und der fortschrittlichen sozialistischen Produktionsweise erst einmal bewältigt
werden musste.
Zu diesem Zeitpunkt bestand die russische Wirtschaft aus einer Variation verschiedener Produktionsund Eigentumsformen, welche aus dem Zarenreich überblieben und sich größtenteils durch unterentwickelten Kapitalismus mit halbfeudalen und feudalen Merkmalen auszeichnete.
Es handelte sich im Wesentlichen um die “kleine Warenproduktion” (ausgezeichnet durch die Mehrzahl aller Bauern), die “patriarchalische bäuerliche Wirtschaft”, den “privatwirtschaftlichen Kapitalismus” und den “Staatskapitalismus”, sowie in einigen wenigen Teilen den Sozialismus geleitet durch proto-Sowjets.
Die Produktion befand sich also nicht einmal vollständig im Staatskapitalismus, geschweige denn in Verhältnissen, die denen des von Marx erlebten Deutschland entsprachen, für welche er den wissenschaftlichen Sozialismus entwarf.
Lenin war entschlossen, der “proletarische Staat” solle “die Freiheit des Handelns und die Entwicklung des Kapitalismus (…) bis zu einem bestimmen Grade zulassen und (…) unter der Bedingung der staatlichen Regelung (…) des Privathandelns” , trotz weiterhin bestehendem Klassenwiderspruch, erlauben, um schnellstmöglich die Produktionskraft voranzutreiben.
Um die materiellen Bedingungen für den Sozialismus also zu ermöglichen, trat Lenin einen Schritt zurück, und erlaubte weiterhin privates Kapital, legalisierte erneut gewinnorientierte Arbeit, Privateigentum in der Konsumgüterproduktion und “Konzessionäre” (So nannte Lenin ausländische
Investoren), welche ungenutzte Ressourcen erschließen sollten und infolgedessen neue Industriewege aufbauen sollten.
Der Aufbau des Staatskapitalismus wurde jedoch nicht nur geduldet, sondern aktiv gefördert. Alte Fachleute aus der Zeit des Zaren wurden reaktiviert und massiv entlohnt, um Dinge wie Rechnungswesen und Kostenanalyse in die frisch nationalisierte Industrie einzuführen:
“Die Überführung der Staatsbetriebe auf die sogenannte wirtschaftliche Rechenführung ist unvermeidlich und untrennbar verbunden mit der Neuen Ökonomischen Politik”.
Nach dem “Rückzug auf den Staatskapitalismus” der 1. Phase der NÖP, folgte in der 2. Phase der NÖP, zum Ende des Jahres 1921, der weitere Rückzug des Staates vom Markt; von nun an ging er in eine rein regulierende Rolle über, nicht groß verschieden von der regulierenden Rolle einer modernen “sozialen”
Marktwirtschaft.
Die NÖP verbesserte die Versorgungslage der Neugegründeten UdSSR enorm und konnte binnen weniger Jahre die Ernährungskrise vollkommen überwinden; nichtsdestotrotz (wie es eben ein

Freimarkt von Natur aus tut) verschärften sich die sozialen Widersprüche weiterhin enorm, und viele der revolutionären und klassenbewussten ProletarierInnen und Kader der Partei, waren sich im Unklaren darüber, was dieser temporäre Kapitalismus für den neuen sozialistischen Staat zu bedeuten habe.
Ein Kader dieser Zeit fasst die Stimmung vieler in der Partei wie folgt zusammen:
“Wir jungen Kommunisten wuchsen auf in dem Glauben, dass es mit dem Geld nun ein für alle Mal vorüber sei. (…) Wenn das Geld zurückkommt, würden dann nicht auch die Reichen zurückkehren? Waren wir nicht auf dem rutschigen Seil, das uns zurück zum Kapitalismus führen würde?”
Die Situation war eine nie zuvor dagewesene; zum einen hatte das Volk durch die Partei die Macht über den Staat, zum anderen duldete dieser sozialistische Staat die Klasse der Bourgeoise, scheinbar ein Widerspruch, aber eben ein notwendiger.
Lenin beschrieb die Situation wie folgt:

“In einer kapitalistischen Gesellschaft entwickeln sich Macht und Geld in gleichem Umfang. Jede beliebige Menge Geld kann in eine genau definierte Portion politischer Macht umgewandelt werden und der Wechselkurs ist eine berechenbare Einheit. Der sowjetische Staat hat diese Osmose von Geld und Macht unterbrochen. Die Partei reserviert alle Macht für sich, überlässt das Geld jedoch dem NEPman.“

Als erster sozialistischer Staat, befanden sich die sowjetischen Kommunisten in einer Lage, in welcher sie sich an vielen Stellen des sozialistischen Aufbaus praktisch nicht auf die Schriften Marx’ und Engels’ verlassen konnten, da die Ausgangssituation für den Sozialismus nun eine vollkommen andere
war.
Das Ende der NÖP (1927) konnte Lenin nicht miterleben, im Zuge der drohenden faschistischen Aggression war die Sowjetunion gezwungen auf zentralistische Methoden zum Aufbau der Schwerindustrie zu greifen.
Der “taktische Rückzug” zurück zum Kapitalismus wie Lenin die NÖP beschreibt, bleibt neben seinen objektiven Erfolgen ein bahnbrechendes Stück marxistischer Theorie (und Praxis) welcher den beinahe wirtschaftlichen Zusammenbruch der jungen UdSSR verhinderte und der KPdSU ein
ausreichend stabiles Fundament für die Verteidigung gegen den Hitler-Faschismus wenige Jahre später ermöglichte.

Der „linke Radikalismus“

Lenins NÖP war, wie heute Chinas weg, kontrovers unter den Ultra-Linken und anarchistischen Strömungen der europäischen Linken der Zeit.
Die Desillusionierung vieler Parteikader der KPdSU, insbesondere aus der linken Opposition um Trotzki, bei der Erkenntnis das ein wirtschaftlich zurückgebliebenes Land wie die UdSSR 1920 nicht in der Lage ist, der sozialistischen Demokratie auf direktem Wege gerecht zu werden, brachte wanken in das utopische Sozialismus-denken vieler SozialistInnen und DogmatikerInnen der linken-opposition.
Ähnliches sehen wir auch heute bei der Bewertung des chinesischen Weges von Seiten vieler GenossInnen.
Die unterschiedlichen wirtschaftlichen Bedingungen in Deutschland, Russland und China zu den jeweiligen Zeitpunkten der proletarischen Revolutionen prägten die Art und Weise, wie die Ideen von Marx und Engels in diesen Ländern angewendet wurden.
Während Deutschland zur Zeit Marx’ und Engels’ (Veröffentlichung des Kapitals, 1868) als eines der reichsten, wirtschaftlich fortschrittlichsten Industrieländer der Welt den Hintergrund für die Entstehung der Ideen des Marxismus bildete, fanden sie in Russland und China in einer Zeit der wirtschaftlichen Unterentwicklung und feudalen bzw. Kolonialen Knechtschaft Anwendung und erforderten insofern konkrete Adaptionen an die materiellen Bedingungen, um die sozialistischen Ziele zu erreichen – eben in der lenin‘schen Manier; einen Schritt zurück, um zwei Schritte nachvorne gehen zu können.


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