Teil 5: Deng Xiaoping und der Sozialismus 2.0

Teil 5: Deng Xiaoping und der Sozialismus 2.0
Statue von Deng Xiaoping auf dem Lianhuashan Park in Shenzhen, China.

Die KPCh ließ schon ab 1971 zu, dass die rechte Opposition um Deng Xiaoping mit Maos Billigung einige erste Reformen implementierte:
Die inmitten des Chaos der Kulturrevolution (1971) radikal stagnierende Wirtschaft (Chinas Bruttosozialprodukt schrumpfte von einem Wachstum von 19.4% Prozent 1970 auf 7.1% 1971 und 3.8% 1972) fing an, sich durch die Normalisierungs-Politik der rechten Reformer um Deng zu stabilisieren, wobei das System der Volkskommunen (siehe Teil 4) weiterhin durch Misskommunikation und ineffizienter Planung zu vielen Engpässen in der Versorgung führte.
Nach Maos Tod übernahm der von Mao, nach Tod des Parteigenossen Zhou Enlai, eingesetzte, mehr oder weniger unbekannte, Premierminister Hua Guofeng automatisch Maos Amt.
Hua ließ als erste Direktive die Viererbande um Maos Frau Jiang Qing verhaften und zum Tode verurteilen, die Massenmobilisierung war als politisches Mittel diskreditiert und die Kulturrevolution beendet.
Der Prozess der Viererbande, der sich erst 1981 abspielte, bedeutete für Hua selbst das politische aus, da sich sein Maß an Beteiligung an der Kulturrevolution herausstellte – Hua verlor sein Amt als Parteivorsitzender, nachdem er schon im Vorjahr sein Amt als Ministerpräsident verlor.
Die vorherigen Jahre, ab 1978, waren geprägt von Flügelkämpfen zwischen den (halb-)Maoisten, wie Hua, und der Reformer, wie Deng: Indem Reformer wie Hu Yaobang und Zhao Ziyang durch Dengs Unterstützung im Politbüro gestärkt wurden, verlor Hua de-facto schon 1978 seine Macht.

Deng Xiaoping

Deng hatte als direkter Zeuge des Sozialismus 1.0 und Opfer mao’scher Kampagnen ein gutes Verständnis für die Herausforderungen, die China in den folgenden Jahren treffen würden.
Er trat 1924 der KPCh bei, studierte ab 1926 in Moskau und wurde 1931 während des Bürgerkriegs zum Parteisekretär der Provinz Ruijin ernannt.
1952 zog er nach Beijing und stieg im politischen Rang auf, wurde Mitglied des Politbüros und leitete die zentrale Finanz- und Wirtschaftsbehörde.
Deng unterstützte Mao in dieser Zeit und blieb ihm sogar während des „großen Sprungs“ treu, obwohl er Zweifel an dessen Erfolg hatte.
Schon zu dieser Zeit galt Deng neben Lin Bao (Welcher 1971 auf recht mysteriöse Weise verstarb) als möglicher Nachfolger Maos, während der Kulturrevolution geriet er jedoch wegen seines wirtschaftlichen Pragmatismus immer wieder in Maos Kritik und wurde verbannt; Drei mal.
Erst 1973 wurde er rehabilitiert und begann, wirtschaftliche Reformen einzuführen, um die Entwicklung der stagnierenden Wirtschaft voranzutreiben.
Durch seinen langjährigen Kontakt mit wirtschaftlicher Arbeit innerhalb des Politbüros, neigte seine politische Arbeit von Anfang an zu einem (im sozialistischen Kontext) pragmatischen Umgang mit den wirtschaftlichen Problemen der VR.
Nach Deng waren die Kernprobleme des Sozialismus 1.0 nicht nur die Übermäßige Konzentration auf den propagandistischen Klassenkampf in allen Bereichen der Politik, sondern insbesondere eben der innere Hauptwiderspruch des sozialistischen Wirtschaftssystems selbst; die Planwirtschaft, und dessen relatives Versagen.

Reform der Planwirtschaft

Das Problem des Antriebsmechanismus, welches während der Zeit der Volkskommunen und deren Umstellung auf ideeller statt materieller Bezahlung am deutlichsten zum Vorschein kam, musste gelöst werden, um die wirtschaftliche Entwicklung der großen Mehrheit zu stimulieren.2

Das Ziel der klassenlosen Gesellschaft blieb also bestehen, auf dem Weg zu dem Überfluss der “Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums” stellte sich jedoch die mao’sche Annahme; die Durchsetzung fortgeschrittener Produktionsverhältnisse würde auch zur raschen Entwicklung der Produktionskräfte führen, als falsch heraus.
Nach umfassenden Debatten innerhalb der KP, wurde entschieden “den Profit und nicht den revolutionären Geist als Hauptantriebskraft für die wirtschaftliche Entwicklung” zu verwenden “und die soziale Ungleichheit” anzuerkennen, um den Fortschritt rasch anzukurbeln und letztlich zum Wohle aller beizutragen.
Deng sagte dazu 1985 in seiner Rede “Reformen sind der einzige Weg für China, seine Produktivkräfte zu entwickeln” folgendes:

“Wir glauben an den Kommunismus, und unser Ideal ist es, ihn zu verwirklichen. In unseren dunkelsten Tagen wurden wir von dem Ideal des Kommunismus getragen. (…) Eine kommunistische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der es keine Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gibt, in der großer materieller Reichtum herrscht und in der der Grundsatz gilt: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Es ist unmöglich, diesen Grundsatz, ohne überwältigenden materiellen Reichtum anzuwenden. Um den Kommunismus zu verwirklichen, müssen wir die in der sozialistischen Phase gestellten Aufgaben erfüllen. Sie sind zahlreich, aber die wichtigste ist die Entwicklung der Produktivkräfte, um die Überlegenheit des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus zu beweisen und die materielle Grundlage für den Kommunismus zu schaffen. Lange Zeit haben wir die Entwicklung der Produktivkräfte der sozialistischen Gesellschaft vernachlässigt. Von 1957 an wuchsen sie im Schneckentempo. Auf dem Lande war das Einkommen der Bauern nach zehn Jahren – also 1966 – nur sehr geringfügig gestiegen. Obwohl es den Bauern in einigen Gebieten besser ging, lebten sie in vielen anderen Gebieten immer noch in Armut. Natürlich war auch das ein Fortschritt im Vergleich zu den alten Zeiten. Von einem sozialistischen Lebensstandard war man jedoch weit entfernt. Während der „Kulturrevolution“ verschlechterte sich die Lage noch weiter.”

Reform der Kommunen

Eine der ersten Maßnahmen der neuen Führung war die Umwandlung der Volkskommunen in das neue “Verantwortungssystem”, bei welchem die jeweiligen Bauern gegen feste Abnahmepreise für den Staat produzieren und die Überschüsse frei auf dem Markt verkaufen konnten.
Diese Methode des Überschussmarktes ist wortwörtlich aus der lenin‘schen Phase der NÖP abgeguckt, die erste marxistisch-leninistische Methode zur Schaffung eines neuen Antriebsmechanismus war erfolgreich an die chinesischen Verhältnisse angepasst.

Infolge Stieg die Getreideernte von 280 Millionen Tonnen (Ende der 1970er) auf über 400 Millionen Tonnen Mitte der 1980er Jahre.
Der Fleischkonsum verdoppelte (!) sich in der Dekade zwischen 1978 und 1988 auf knapp 100 Gramm pro Person/Tag.
Die durchschnittliche Kalorienzufuhr erhöhte sich von 1.876 Kcal p.P./Tag auf (1976) auf 2.505 Kcal p.P./Tag (1988), hiermit war der Hunger zum ersten Mal in der 4000-jährigen chinesischen Geschichte nachhaltig besiegt – heute sind es 3.206 Kcal p.P/Tag.
Zum Vergleich: der japanische Wert lag 2018 bei 2.705 Kcal p.P./Tag, der kubanische bei 3.344 Kcal p.P./Tag.

Die bewusste Nutzung der Beziehungen zwischen Waren und Geld, mit dem Ziel, die realen Preise und Selbstkosten im Verhältnis zueinander wiederherzustellen, hatte tiefgreifende Auswirkungen und führte nicht nur auf dem Land zu einem raschen wirtschaftlichen Aufschwung.
Zum ersten Mal seit langem wurden Anreize für eine erhöhte Produktion geschaffen:
Das Prinzip der Leistung sowie der Verteilung basierend auf der Menge und Qualität der erbrachten Arbeit erlangten erneut an Bedeutung, dies führte dazu, dass die Diskussion über die Rolle von Markt und Wertgesetz in anderen Bereichen der Wirtschaft wieder auflebte.
Ähnliche Diskussionen wurden seit Gründung der VR geführt und nur während der GPKR pausiert, da die Idee der weiteren Einbeziehung des Wertgesetzes als rechte Abweichung galt.

„Die Politik der Reform und Öffnung“

Die “Politik der Reform und Öffnung” (PDRUÖ) wurde offiziell auf dem 3. Plenum der ZK der KPCh beschlossen und als erstes Mittel der PDRUÖ die “Vier Modernisierungen” beschlossen:
Die Modernisierung der Landwirtschaft, der Industrie, der Verteidigung und der Wissenschaft bildeten die höchste Priorität der chinesischen Entwicklung.
Zum Zweck dieser Entwicklung wurden erstmals Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, welche nach dem lenin’schen Vorbild der Staatskapitalistischen Kontrolle über die “Konzessionäre” (Siehe Teil 2) neben der Produktionssteigerung auch Know-how und Kapital zum Aufbau des Staatssektors einbringen sollte.
Ausländische Investitionen waren (und sind!) in China per se an die Mehrheitsbeteiligung eines staatlichen Konzerns geknüpft, und folgen so der Prämisse der permanenten Kontrolle über die organisierte Bourgeoise durch den Staat.

Aber, “wenn wir “Staat” sagen, dieser Staat wir sind, das Proletariat, die Vorhut der Arbeiterklasse. Staatskapitalismus – das ist jener Kapitalismus, den wir einzuschränken, dessen Grenzen wir festzulegen wissen”.
Ab 1980 wird der Überschussmarkt auf Industriebetriebe geleitet, größere Unternehmen dürfen von nun an ebenfalls ihre Überschüsse frei verkaufen – insbesondere mit dieser Regelung gelang es der VR das sie sich schon bald total ohne Importe autark ernähren konnte und durch die rapide Entwicklung der Schwer- und Konsumgüterbereiche gelang es der VR, genügend Divisen durch den Export zu sammeln, um die Entwicklungstheorie der folgenden Jahrzehnte der VR zu entwerfen.
Xu Muqiao, führender Theoretiker hinter der Adaption der NÖP auf die chinesischen Grundsätze, stellte anhand Marx’ Schrift “Kritik des Gothaer Programms” (Siehe Teil 2,3) die Erkenntnis auf, China befände sich in der ersten Phase des Sozialismus, welche “bei konstanter wirtschaftlicher Entwicklung von Gründung
der Volksrepublik an mindestens ein Jahrhundert
” in Anspruch nehmen würde, um diese erste Phase des Sozialismus zu absolvieren.
Priorität dieser ersten Phase sei das In-Übereinstimmung-bringen der Produktionsverhältnisse mit dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte.

Der bedeutende Fehler der Mao-Zedong Ära war also, der Versuch die enorm unterentwickelten ”halb-feudalen” Produktionskräfte in ”hochgradig sozialisierte, sozialistische Produktionsverhältnisse zu zwängen”; nach der materialistisch dialektischen Methode ist also der einzige Weg zu einer produktiven Entwicklung des Sozialismus, die Widersprüche zwischen den Produktiv- Kräften und Verhältnissen zu entfernen – d.h. die Produktivkräfte unter den ihnen adäquaten Produktionsverhältnissen zu entwickeln.
Erst nach Schaffung einer entwickelten Warenproduktion könne die schrittweise höher entwickelte Stufe des Staatskapitalismus und später Sozialismus bzw. dem allmählichen Kommunismus folgen – historischer Materialismus eben.

Im Zuge des “Sozialismus chinesischer Prägung” wurde allmählich die Mikro Planung der einzelnen Betriebe aufgehoben und durch Erarbeitung perspektivischer Ziele ersetzt – alles, was über das Plansoll hinausging, sollte frei zu Marktpreisen verkauft werden.
Deng und der KPCh war selbstverständlich bewusst, dass die weitere Zulassung von Privateigentum an Produktionsmitteln zu sozialen Widersprüchen führen würde; aus dieser Erkenntnis stammt die bekannte Phrase: “Lasst einige zuerst reich werden!”, genauer gesagt war klar, dass die Küstenstädte schnellere Entwicklung verzeichnen würden als das Mainland.

Die sich immer weiter ausprägenden Widersprüche in der Entwicklung der Stadt-Land Peripherie, welche u.a. die ersten großen Züge an WanderarbeiterInnen mit sich brachten, führten 1985/86 zur ersten großen Krise der PDRUÖ.
Durch Erosion des Planes trotz gleichzeitiger (noch) lückenhafter Marktmechanismen, trafen sich ab Ende ‘85 die “schlechtesten Eigenschaften von Markt und Plan”.
Es folgte eine Anpassung der PDRUÖ, welche insbesondere die Beteiligung der ArbeiterInnen an den Unternehmen stärken sollte – die Planwirtschaft sollte im Bereich Makroplanung weiter ausgeweitet werden und die Marktwirtschaftlichen Aspekte für das System des gesellschaftlichen Eigentums und der Verteilung nach Leistung in Übereinstimmung gebracht werden.
Neu war, dass für Staatsbetriebe nun erstmals auch der Fall des Bankrotts möglich war; hiermit sollte nach dem deng’schen Prinzip ”Die Wahrheit in den Tatsachen suchen” erforscht werden, wie die Frage des Anreizes und der wirtschaftlichen Verantwortung endgültig gelöst werden können.
Auf dem XIV. Parteitag der KPCh (1989) wurde betont, dass die ”klassischen sozialistischen Prinzipien (…) des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln und die Verteilung nach der Leistung gewährleistet werden – jetzt aber auf der Grundlage dessen, dass nicht mehr an der Planwirtschaft festgehalten wird.”.
Es wurde klargestellt, dass ”China sich in der Anfangsphase des Sozialismus befindet”, siehe Kritik des Gothaer Programms.
Nach Dengs Frühlingsoffensive (1992), in welcher er mit Wirtschaftsdelegierten durch das Land reiste, um sich der Tatsachen der Änderungen der PDRUÖ in den Küstenstädten bewusst zu werden, wurde entschlossen den massiven (!) Aufschwung der Küstenstädte auf das gesamte Land zu übertragen.
Auf einem dieser Besuche sagt er folgendes:

“Bei meiner Reise hierher habe ich festgestellt, dass das rasche Wachstum in den Sonderwirtschaftszonen Shenzhen und Zhuhai und einigen anderen Gebieten meine Erwartungen übertroffen hat. Nach dem, was ich gesehen habe, bin ich sogar noch zuversichtlicher. (…) Die Revolution bedeutet die Emanzipation der Produktivkräfte, ebenso wie die Reform. Der Sturz der reaktionären Herrschaft des Imperialismus, des Feudalismus und des Bürokratiekapitalismus hat zur Befreiung der Produktivkräfte des chinesischen Volkes beigetragen. (…) Nach der Errichtung des grundlegenden sozialistischen Systems ist es notwendig, die Wirtschaftsstruktur, die die Entwicklung der Produktivkräfte behindert hat, grundlegend zu ändern und eine kraftvolle sozialistische Wirtschaftsstruktur zu schaffen, die ihre Entwicklung fördert. Dies ist eine Reform, also bedeutet Reform auch die Emanzipation der Produktivkräfte. In der Vergangenheit haben wir nur den Ausbau der Produktivkräfte im Sozialismus betont, ohne die Notwendigkeit zu erwähnen, sie durch Reformen zu befreien. Diese Auffassung war unvollständig. Sowohl die Befreiung als auch die Ausweitung der Produktivkräfte sind wesentlich.”

Welche Entwicklungen sich aus der PDRUÖ ergeben haben, und wie sich der chinesische Sozialismus seitdem entwickelt hat, findet ihr im nächsten Teil.

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Jack Finch

Merely wanna admit that this is handy, Thanks for taking your time to write this.

Karl

Du beschreibst halt ziemlich genau was Marktwirtschaft ist und nennest das ne Errungenschaft des Sozialismus.