Die Lehre vom neutralen Staat
Die Lehre vom neutralen Staat
Appelle an einen “gerechten” Staat basieren auf der Vorstellung, dass der bürgerliche Staat nur ein leeres Blatt Papier ist, dass von den Regierenden beschrieben werden muss – das ist falsch.
Warum der bürgerliche Staat die Ungleichheit nach Innen und Außen braucht, um weiterhin zu funktionieren, und warum die soziale Ungerechtigkeit niemals durch eine “bessere” Politik in diesem Staat gelöst werden kann.

Reminder: Die rot-markierten Wörter sind Links, die zu entsprechenden Kritikpunkt-Artikeln führen.
Wir empfehlen außerdem noch folgende Artikel zum Thema bürgerlicher Staat:
„Der Gott des Bürgertums“ – Über „den Markt“ und die Logik der immer wiederkehrenden Krisen.
„Das Grundgesetz; Eigentum und Demokratie“ – 75 Jahre Grundgesetz, 200 Jahre die gleichen Strukturen.
„Herrschaft in der Krise“ – Über die Reaktion des bürgerlichen Staates auf den Widerspruch zwischen Volk und Herrschaft.
In Deutschland gibt es rund 3,6 Millionen Selbstständige, von denen wiederum knapp 10 Prozent scheinselbstständig sind – das sind 4,5% der deutschen Gesamtbevölkerung.
Außerhalb dieser Selbstständigen existieren Schichten innerhalb der arbeitenden Bevölkerung, bei denen das Argument gebracht werden könnte, dass sie zwar selbst keinen Besitz an Produktionsmitteln vorweisen können, aber durch die Verwaltung in Managerposten etc. in einer Pufferzone zwischen den beiden großen Klassen existieren.
Auf dem anderen Ende dieser Grauzone sind die kleinbürgerlichen Selbstständigen; die kleinen Kaufläute, Ladenbesitzer, Marktstandinhaber, Buchhändler und sonstige, die oft in armen und familiären Rahmen selbst den Machenschaften der großen Kapitalisten untergeordnet sind, aber eben doch keine Arbeitenden sind, da sie ihre Arbeitskraft nicht direkt verkaufen müssen.
Die restlichen 90%, das sind die Arbeitenden und Armen.
Arbeitende Menschen gibt es hierzulande rund 46 Millionen, Rentnerinnen 19 Millionen.
Arbeitslos sind rund 3 Millionen, von denen ist ziemlich genau die Hälfte arm.
Allumfassend sind in Deutschland rund 18 Millionen Menschen von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht, insgesamt leben rund 29% der Menschen in Deutschland in „Armut oder sogar strenger Armut“.
Diese Hälfte der Menschen in Deutschland, die aktiv arbeitet, besitzt ca. 3% des Gesamtvermögens, weitere 20% besitzen gar kein Vermögen, und weitere 9 Prozent ein negatives Vermögen, sind also verschuldet bei denen, denen die 97% des Gesamtvermögens gehören.
Gut, Deutschland hat eine wachsende Vermögensungleichheit, die selbst im europäischen Vergleich an der Spitze steht, die Schere zwischen Arm und Reich eben – das ist keine große Erkenntnis.
Es gibt viele Dinge und Instrumente, die das Leben der Arbeitenden und Armen hierzulande verbessern könnten.
Ganz offensichtliche, wie die Erhöhung des Mindestlohns, die nun mal knapp 7 Millionen Menschen in Deutschland, d.h. ein Fünftel aller Beschäftigten, den Lebensstandard zumindest minimal verbessern würden.
Eine Vermögenssteuer, die laut Hans-Böckler-Stiftung „jährlich zehn bis 20 Milliarden Euro einbringen könnte“, dessen Ertrag dann wiederum für soziale Zwecke genutzt werden könnte.
Mit jenem Ertrag könnte man u.a. ein bedingungsloses Grundeinkommen über ein paar Hundert Euro finanzieren, bedingt man es an gewisse Einkommensschichten könnte es gar ein paar Tausend Euro betragen.
Der Staat ein leeres Blatt Papier
„Je gerechter Einkommen verteilt sind, desto weniger muss über die Steuerpolitik korrigiert werden. Dafür wird die SPD Hand in Hand mit den Gewerkschaften eintreten.“
Dass die Einkommensverhältnisse in Deutschland, wie in jedem anderen bürgerlichen Staat, ungerecht sind, sieht selbst die SPD, zumindest programmatisch.
Für die linksliberalen Kräfte ist klar, dass der Staat theoretisch die Möglichkeit hat, die Ungleichheit in Deutschland, und ihre Folgen, zu schlichten bzw. zu beseitigen.
Der Staat ist dabei die umfassende Institution, in der sich Ämter, Behörden, Fiskalpolitik und Steuern zusammenfinden, somit von dort aus auch genannte Dinge gesteuert werden können.
Kurzum; der Staat mit seinen Aufgaben ist ein leeres Blatt Papier, welches entweder so oder anders, beschriftet werden kann.
„Der Staat muss für vielfältige Besitzstrukturen sorgen und eine gerechte Verteilung fördern“ (die Grünen)
Hier herrscht aber ein grundsätzliches Missverständnis; der Staat muss vielleicht, aber er kann nicht.
Anders als in der bürgerlichen Vorstellung, ist der Staat kein neutrales Instrument, welches von der Politik so oder so beeinflusst werden kann.
Der Staat ist nämlich kein Etwas, was eben da ist, und nur auf die Anweisungen der jeweiligen Regierung wartet, also im Auftrag der bürgerlichen Demokratie steht.
Die Aufgabe der Staates ist allein, die Sicherung der Interessen des deutschen und befreundeten Kapitals.
Das ist keine Floskel die nur agitatorisch ihren Wert hat, es ist tatsächlich so.
Warum rechnet der bürgerliche Staat denn seinen Erfolg mit dem Bruttoinlandsprodukt? Was hat denn dass 90% der Menschen in Deutschland zu interessieren?
Der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen ist doch irrelevant für die Lebensverhältnisse der Menschen in diesem Land, der arbeitenden Menschen zumindest.
Nun mag einer sagen, dass doch aber auch der Sozialhaushalt durch Steuern, Subventionen, Konjunkturen vom BIP abhängt – aber weshalb denn? Was ist denn hier der tatsächliche Zusammenhang?
Das bürgerliche Verständnis vom Staat und dessen Aufgaben lässt vermuten, dass wenn es Deutschland gut geht, es den Menschen in Deutschland gut geht.
Aber es gibt doch hier keinen Wechselkurs zwischen BIP und Lebensstandard, ganz im Gegenteil.
Seit den 1970er Jahren verläuft das Arbeitsproduktivitätsniveau in Deutschland ungleich mit dem Arbeitnehmereinkommen; d.h., die Produktivität Deutschlands (gemessen durch BIP) steigt, und die Reallöhne stagnieren.

Die Schlussfolgerung daraus ist aber nicht, dass seit den 1970er Jahren einfach „die falsche Politik“ betrieben wird, sondern dass ein hoher Lebensstandard, bzw. ein Lebensstandard, der dem Produktivitätsniveau entspricht, nicht im Interesse dieses Staates ist.
Wichtig: Dieses Staates, nicht der Regierenden.
Die Regierenden sind die, welche die Interessen des Staates, d.h. der kumulierten Kapitalisten und Besitzenden, an die Bevölkerung eines Staates vermittelt, nicht umgekehrt.
Ungleichheit als Notwendigkeit
Der Staat braucht die relative Armut großer Teile der Bevölkerung, denn wer erledigt denn sonst die Arbeit, welche die Konzerne brauchen, um ihre Profite zu maximieren und im Umkehrschluss den BIP steigen lassen.
Eine Gesellschaft, in der der Lohn gleichmäßig zum Produktivitätsniveau steigen würde, wäre kein funktionierender Kapitalismus.
Die Reproduktion der Arbeitskraft funktioniert nur dann, wenn die Lohnarbeitenden dazu gezwungen sind, ihre Arbeitskraft in Mengen zu verkaufen, die einen relativen Lebensstandard aufrecht erhalten, bzw. ihn verbessern können.
Ginge man nun davon aus, der Lohn wäre seit den 1970er Jahren relativ mit der Produktivität gewachsen – wer stände denn dann heute an der Kasse? Am Fließband? Wer säße für Mindestlohn im Büro oder hinter der Theke?
Der Euphemismus „Kapitalstandort Deutschland“ bedeutet doch auch, dass die Lohnarbeitenden hierzulande weiterhin willig sind, ihre Arbeitskraft zu preisen zu verkaufen, welche für ein jeweiliges Unternehmen lohnenswert ist.
So steht es doch vollkommen gegen die Interessen des bürgerlichen Staates, Investitionen gegen Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zu tätigen, weil er ohne diese Ungleichheiten nicht in der Lage wäre, seine Arbeit als Hüter des Kapitals zu erledigen.
Natürlich hat die bürgerliche Politik einen Einfluss darauf, welche Investitionen wo getätigt werden, aber eben alles im Kontext der Wünsche des Staates.
Denn agiert eine Partei vollkommen gegen diese Interessen, dann existiert sie nicht mehr.
„Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Ihre Gründung ist frei. (…) Parteien, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind verfassungswidrig.“ (Art. 21 (1,2))
Die deutsche Bürger:in darf also frei aus dem Parteienpool wählen, den der Staat zuvor für sie durch gereinigt hat.
Nur zur Erinnerung: Selbst die DKP ist nur deshalb zugelassen, weil sie laut Verfassungsschutz nicht „wichtig genug“ ist.
Wenn also jemand wirklich mit diesem Staat unzufrieden ist, dann hat er keine ernsthafte Wahlalternative (!), die ein nicht-bürgerliches System anstrebt – gäbe es sie, wäre sie nach Artikel 21 verboten.
Der Einsatz für höhere Sozialausgaben ist offensichtlich ein progressiver, weil hinter ihm die Erkenntnis steht, dass die Dinge nicht gerecht sind.
So ist der Einsatz für einen „gerechteren“ bürgerlichen Staat im Sinne der Agitation auch kein falscher, aber im Kern des Arguments eben doch kein richtiger.
Darüber hinaus ist der Einsatz für einen gerechten bürgerlichen Staat einer, der den Großteil der Menschen vergisst, die doch für den Erhalt dieses Staates im Sinne des deutschen Imperialismus schuften und leiden.
So ist der Appell an einen „gerechteren“ Staat im inneren vollkommen abgekoppelt von dem absoluten Großteil des Leides, welches auch durch dieses Verständnis des Gerechten-Staates (im Sinne von weniger Ungleichheiten etc.) nicht verändert.
Sagen wir, diese Vorstellung des gerechten bürgerlichen Staates wäre möglich (ist sie nicht, s.o.) – was würde das denn für einen Unterschied machen, für die Menschen im globalen Süden, die doch für die Interessen des deutschen Kapitals weiterhin leiden würden.
Das relative Leid vieler Arbeitenden und Armen Menschen in Deutschland ist doch nicht mehr als ein Krümel im Vergleich zu dem Leid des Teiles der Weltbevölkerung, welches eben tatsächlich für die Expansionsfähigkeit des Kapitalismus von deutschem Boden in ackert und verreckt.
Der Sozialstaat und dessen Verbesserung ist eine Taktik des Burgfriedens.
Selbst wenn es funktionieren würde, dass die Lage der Arbeitenden in Deutschland eine des vollkommenen Wohlstands ist, dann ändert das doch nichts an der Lage der Arbeitenden und Armen anderswo – denn das deutsche Kapital, wie jedes andere entwickelte Kapital, bezieht die Ressourcen zu seiner Profitmaximierung hauptsächlich eben aus anderen Ländern.
Ganz im Gegenteil; wenn es so wäre, dass das deutsche Kapital diesen Wohlstand der arbeitenden hierzulande zulassen würde (würde es nicht, s.o.) stände das doch in direktem Zusammenhang mit einer Zunahme der Aggressivität des Kapitals nach Außen, wo es nun mal gezwungen wäre, die dann fehlende Arbeitskraft ins Ausland zu verlagern.
Die Kinderarbeiter im Kongo haben doch nichts aus diesem deutschen Sozialstaat, wenn sie das Lithium und das Kobalt für die E-Autos von VW ausgraben.
Was haben denn die Arbeiter in Lateinamerika vom deutschem Sozialstaat, wenn sie den Kaffee, den Kakao und die Bananen für die deutschen Supermarkt-Ketten pflücken?
Und was haben die Arbeiter in Pakistan und Bangladesch vom deutschen Sozialstaat, während sie die T-Shirts der deutschen Textilmonopole nähen?
Das Lebensniveau der Menschen in Deutschland ist unerträglich, wenn man sich die Entwicklung des deutschen Produktivitätsniveaus anschaut.
Aber die Antwort darauf ist nicht, sich außerhalb der Agitation für eine Verbesserung des bürgerlichen Sozialstaats einzusetzen – denn das Leid, welches der Kapitalismus verursacht, ist global.
Die Antwort lautet wie so oft; Sozialismus.
I live in Canada and it seems that many of the problems that this article outlines–for instance, the increasing gap between worker productivity and worker wage compensation–are things my country faces too. The social welfare state is failing the people in many ways and the GDP growth does not allow my country to shore up these failings.
Just goes to show that, no matter your nation, skin colour or language, Capital is ultimately the international enemy of the working people of the world. Neoliberalism didn‘t just happen in the U.S. or Canada, but in the entire western hemisphere to increase profits, and Capital is again, with limits to profitability and ever-worsening crises, coming into conflict with the Law of Value. It is our mission as international proletarians of the world to smash the engines of Capital and grind them down until they are no more.
Couldn’t have put it better ourselves.