1. Kurd*innen und Syrien vor der Revolution

1. Kurd*innen und Syrien vor der Revolution

Demokratischer Föderalismus, Repression gegen Kurd*innen und die Widersprüche, die zu Syriens Revolution geführt haben.

Das ist Teil 1 der Reihe „Syrien & alles dreht sich um Rojava“.


2003 gründete Osman Öcalan in den Kandil-Bergen des heutigen Gouvernement Erbil in Kurdistan die Partiya Yekîtiya Demokrat, die Partei der Demokratischen Union (PYD).
Der Name Osmans täuscht nicht, er war der jüngste Bruder des PKK-Vorsitzenden Abdullah „Apo“ Öcalan; um die PKK soll es aber in diesem Artikel nicht aktiv gehen, wir wollen uns auf Rojava konzentrieren.

Die PYD konnte sich durch Übernahme personeller, finanzieller und strategischer Ressourcen der PKK schnell zu einer bedeutsamen Kraft in der kurdischen Politik festigen, wobei sie nie über (nach syrischem Recht) legale Organisationsstrukturen verfügte.
Nachdem sich 2009 die Beziehung zwischen Assads Syrien und (de-facto) Erdogans Türkei begannen zu verbessern, wusste die PYD, auf kurdisch-nationalistische Agitation unter den (größtenteils Türkei-feindlichen) syrischen Kurd*innen zu setzen, welche ihr wiederum verhalf, in den Gebiete Efrîn und Ain al-Arab (Kobanê) die unter Kurd*innen vorherrschende Partei zu werden.
Im Gegensatz zu anderen kurdischen Parteien, wie der KDP-S oder die Azadî-Partei, die politisch aktiv, aber institutionell schwach waren und von der einheimischen Bevölkerung isoliert und distanziert blieben, war die PYD bereits vor der syrischen Revolution auf eine Machtübernahme vorbereitet.

Der Demokratische Föderalismus

Die PYD sowie ihre Nachfolge- und Schwesterorganisationen (s.u.) vertreten das Konzept des demokratischen Föderalismus (Konfederalîzma demokratî) welches auf Abdullah Öcalan zurückgeht.  
Der demokratische Föderalismus (DF) ist die zentrale Zielsetzung des heutigen Rojava im Sinne der Selbstverwaltung und kurdischer Autonomie.

Öcalan entwickelte den demokratischen Föderalismus als Antwort auf die Marxistisch-Leninistischen Befreiungsbewegungen der frühen 2000er Jahre, dessen Staatsverständnis er nicht teilte.

Der Demokratische Föderalismus ist so namentlich das Gegenstück zu Lenins Demokratischem Zentralismus; statt der zentralisierten Entscheidungsfindung innerhalb der Avantgarde-Partei, in der sich die gesellschaftlichen Klassen wiederfinden, soll die Macht innerhalb einer Gesellschaft dezentral auf verschiedenen Ebenen (lokal, regional, national) basisdemokratisch verwaltet und (größtenteils) autonom ausgetragen werden.

Der Nationalstaat wird hier nicht nur als historisches Ergebnis des Kapitalismus verstanden, in der sich das Eigentum eben am effizientesten reproduzieren lässt, sondern auch als dessen politischer Arm, der durch institutionalisierte Gewalt Hierarchien festigt und soziale Konflikte vertieft.
So biete sich der Staat für die Befreiung der Kurd*innen nicht an, weil in der Analyse des DF der Staat nicht ohne Ausbeutung (ob kapitalistische, feudale oder staatssozialistische) zu erhalten sei.
Statt der staatlichen Übergangsform der Diktatur des Proletariats auf dem Weg zur gesellschaftlichen Emanzipation, will der DF die Organisation der Gesellschaft durch föderierte Räte und Kommunen, in denen Entscheidungen lokal und partizipativ getroffen werden, ohne Übergangsform erreichen.
Diese Form der Räteorientierung weist deutliche Parallelen zu frühmarxistischen Rätekonzepten auf, stellt aber Zentralisierung in Form von zentraler Planung und Gewalt grundsätzlich in Frage.  
Im Sinne der Demokratisierung der Gesellschaft sieht der DF den Staat als widersprüchlich mit der Demokratie selbst, da er eben eigene Interesse innehat.

Die Frau hat in der Analyse des DF die besondere Rolle inne, dass ihre Rolle als „a sexual object and a commodity“ (S.16) sie in eine einzigartige dreifache Unfreiheit in einer kapitalistischen Gesellschaft zwingt.
Der DF erkennt die Unterordnung der Frau in einer Reihe mit dem Nationalismus und der Instrumentalisierung der Religion als Überlebensnotwendig für das Verweilen des Staates.

Der DF versteht die kapitalistische Produktionsweise explizit als Zerstörer der ökologischen und sozialen Grundlagen des Lebens, welches nicht nur Mehrwert aus Arbeitskraft extrahiert, sondern ganz bewusst und gewollt die Natur zu Ware degradiert, um überleben zu können.
Diesbezüglich ist die Forderung nach einer ökologischen Umstrukturierung der politischen Ökonomie integraler Bestandteil des Demokratischen Konföderalismus.

Während der Marxismus-Leninismus sich traditionell auf universelle (wissenschaftliche) Prinzipien stützt, betont der DF die Notwendigkeit, regionale, ethnische und kulturelle Besonderheiten zu reflektieren und in politische Strukturen zu integrieren.
Konflikte zwischen Gruppen werden dabei nicht durch zentrale Entscheidungen, sondern durch Kooperation gelöst, um Eskalationen zu verhindern.
Dies ist insbesondere in multiethnischen Kontexten von Bedeutung, da staatliche Homogenisierungsprozesse häufig zu Gewalt und Marginalisierung führen (s.u.).
Bzgl. der jeweiligen Gruppen erlaubt der DF nicht nur freien Ausdruck von religiösen, kulturellen und ethnischen Identitäten, sondern die freie Entscheidung darüber, wie die einzelnen Räte entscheiden sich zu regieren; „Whether nationstate, republic, or democracy“. (S.22) [1]

Wir wollen an dieser Stelle den DF nicht kritisieren, weil wir nicht glauben, dass dieser Artikel den richtigen Kontext für eine ausführliche Kritik des DF bietet.
Kurzgefasst; der DF ist eine häufig korrekte, progressive Gesellschaftsvorstellung, die einige Widersprüchliche Ideen vom Staat innehat, und damit das Risiko beherbergt, ähnliche Schicksale wie anarchistische Projekte in der Vergangenheit herbeizurufen.

Inneren Widersprüche Syriens

Nachdem die Proteste in Ägypten und Tunesien 2011 den „arabischen Frühling“ anstießen, dauerte es nicht lang, bis der Widerspruch zwischen Volk und Herrschaft auch in Syrien spitz genug wurde, um sich neben den revolutionären Bewegungen der arabischen Welt einzureihen.

Die Trockenzeit der 2000er Jahre, die daraus folgenden Missernten und mangelnden Investitionen bzgl. der Linderung der sozioökonomischen Widersprüche (enorme Arbeitslosigkeit, drohender Hunger), führte bis 2010 zu einer Massenflucht von ca. 1,5 Millionen Syrer*innen.
Als Gegenstück dazu, nahm Syrien zwischen 2003 und 2007 etwa 1,2-1,5 Millionen Flüchtlinge des amerikanischen Kriegs im Irak auf.

Die inneren Widersprüche Syriens begannen sich schon in den 1990er Jahren, nach dem Zerfall der Sowjetunion, rapide zuzuspitzen.
Der Zerfall der Sowjetunion bedeutete für Syriens Staatspräsidenten (und Assads Vater) Hafez Al-Assad, Isolation aus der (bis dato) bipolaren Weltordnung.
Die bis heute regierende Baath-Partei entschied in Reaktion, die zu großen Teilen nationalisierte syrische Wirtschaft, welche bis in die 1990er Jahre eine der blühendsten Lebensniveaus im mittleren Osten produzierte, zu liberalisieren und ausländische Investitionen zuzulassen.
Die Liberalisierung sollte es der syrischen Wirtschaft ermöglichen, nach dem Zerfall des Ostblocks international wettbewerbsfähig zu bleiben – wir kennen das Spiel.
Nicht lang nach der Ratifizierung der Reformen, infiltrierten ausländische Konzerne Syrien in einem absurden Tempo; schon Mitte der 1990er Jahre waren Shell (GB), die Oil and Gas Corporation (Indien), Suncorp (Kanada), Total S.A. (Frankreich) und etliche kuwaitische und saudische Banken in Syrien vertreten.
Die Privatisierung der syrischen Wirtschaft führte eine beeindruckend schnelle Zersetzung des Lebensstandard mit sich: Es folgten zwanzig Jahre sozialstaatlicher Kahlschlag, massenhafte Entlassungen, Vermögenskonzentration, Bürokratisierung und Vetternwirtschaft.

Die Zahl der Syrer*innen, die 2011 unterhalb der Armutsgrenze lebten, wurde auf 33 % bis 40 % geschätzt, wobei die Zahl derer, die in „extremer Armut“ lebten, d.h. nicht einmal ihre Grundbedürfnisse befriedigen konnten, bei etwa 13 % lag.
Die Arbeitslosigkeit war bis 2011 auf 20 % in die Höhe geschnellt und lag bei der Jugend noch viel höher.[2]

Wie in jedem Fall führte die Zuspitzung der sozioökonomischen Widerspruche in Syrien zum massiven Ausbau staatlicher Repression, insbesondere gegen die Minderheiten in Syrien, bei denen Assad und seine politische Clique am ehesten Widerstand gegen den Ausbau des staatlichen Gewaltapparats zu befürchten hatte.

Die bedeutendste dieser Minderheiten waren und sind Kurd*innen, welche zwischen 10 und 15% der syrischen Bevölkerung ausmachen.

Kurd*innen in Syrien

Schon zu Zeiten Assads Vater, war das Dasein der Kurd*inen in Syrien von Diskrimnierung, Marginalisierung und systematischer Ausgrenzung geprägt.
Im Gouvernement al-Hasaka (heutiges Rojava) verloren 1962 im Zuge einer Völkszählung erst 120.000, bis 2011 300.000, Kurd*innen ihre syrische Staatsbürgerschaft, weil sie illegal aus der Türkei nach Syrien gekommen seien.
In Wahrheit wusste der syrische Staat keine andere Möglichkeit, die dort lebenden Kurd*innen schneller zu enteignen, und ihr Land an arabische Großgrundbesitzer, welche sich politisch eingekauft hatten, zu verteilen.

Die Repression gegen die Kurd*innen Syriens verschärfte sich seit dem Liberalisierungskurs der Baath-partei, und umfasste u.a. das Verbot des Tragens Tragen traditioneller Kleidung, sowie allgemeine Einschränkung kurdischer Kultur.
Beispielhaft sind die Unruhen in Qamischli (heutiges Rojava, 2004) zu nennen, bei denen die syrische Polizei 9 unbewaffnete kurdische Zivilisten des Fußballvereines „Al Jihad“ erschoss, nachdem es zu Unruhen zwischen Fans Al Jihads und denen des rivalisierenden Vereins kam.
Für den Folgetag organisierten sämtliche kurdische Parteien einen Trauerzug für die Verstorbenen des Massakers:
Der unter enormer Polizeipräsenz verlaufende Trauerzug wurde unterbrochen, als einige Partizipant*innen anfingen, Assad-Statuen in Protest der kurdischen Repression mit Steinen zu bewerfen.

Der Trauerzug in Qamischli, 2004.

Die anwesenden Sicherheitskräfte reagierten mit Schüssen in die Menge auf die Unruhen, die Auseinandersetzungen weiteten sich in den Folgenden Tagen auf Aleppo und Damaskus aus.
Insgesamt wurden mindestens 32 Menschen getötet, wobei ein Großteil der Opfer politisch aktive Kurd*innen waren.
Folge der Unruhen war eine Verhaftungs- und Folterwelle, der über 2000 Kurd*innen und Sympathisant*innen zum Opfer fielen, darunter etliche kurdische Kinder.


[1] https://www.freeocalan.org/wp-content/uploads/2012/09/Ocalan-Democratic-Confederalism.pdf

[2] https://marxist.com/in-defence-of-the-syrian-revolution-the-marxist-perspective.htm

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