Der Tod der Hegemonie

Der Tod der Hegemonie

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Die kapitalistische Herrschaft braucht die Vorstellung der Alternativlosigkeit um zu funktionieren.
Mit der Entwicklung der Informations-technologie ist diese Vorstellung immer schwieriger zu fabrizieren.
Ein Exkurs über Gramsci, Herrschaft und Social-Media.

Antonio Gramsci, gestorben an den Folgen der faschistischen Folterhaft.

Reminder: Die rot-markierten Wörter sind Links, die zu entsprechenden Kritikpunkt-Artikeln führen.
Dieser Artikel ist, wie alle unsere theoretischeren Artikel, für den Einstieg in bestimmte Themen geeignet, in diesem Fall der kulturellen Hegemonie – er ist bewusst simpler gefasst, um einen sachteren Einstieg in ein komplexes Thema zu bieten.


Der Verbleib der kapitalistischen Herrschaft ist eine Sache, die nicht nur durch bloßen Zwang, sondern durch die Vorstellung der Alternativlosigkeit aufrechterhalten wird.
Für die Stabilität und den bloßen Erhalt des Kapitalismus, braucht es die Zustimmung, bzw. zumindest die Toleranz der breiten Masse der Bevölkerung, für Gramsci bedeutete das; „dass die herrschende Gruppe sich auf konkrete Weise mit den allgemeinen Interessen der untergeordneten Gruppen abstimmen wird und das Staatsleben als ein andauerndes Formieren und Überwinden von instabilen Gleichgewichten zu fassen ist (…)“ – d.h. dass die herrschende Klasse, die Klasse der Besitzenden, nicht nur durch Zwang (den Zwang, Teil der kapitalistischen Produktionsweise zu sein) sondern durch Etablierung der Vorstellung, dass die Interessen der Herrschenden auch die Interessen der allgemeinen Gesellschaft sind, herrschen kann.

Das funktioniert im inneren dann durch Diskursverschiebung, wie der Vorstellung, Bürgergeld-Empfänger und Flüchtlinge seien schuld an den steigenden Lebenserhaltkosten und nach Außen durch die Etablierung von „nationalen Feinden“, die irgendeine Bedrohung „gemeinsamer Werte“ (Demokratie, „Freiheit“, etc.) darstellen.

Der Staat erlaubt dann bürgerliche Freiheiten, die eigentlich nicht im direkten Sinne des herrschenden Interessen sind, aber eben der Hegemonie insofern dienen, dass sie ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Herrschaft und Beherrschten vermuten lassen.
Ein zentraler Mechanismus hegemonialer Herrschaft besteht nach Gramsci darin, dass die Interessen subalterner Klassen nicht vollständig unterdrückt, sondern in modifizierter Form in das bestehende Herrschaftsgefüge integriert werden.
So kann etwa der Staat, auch unter kapitalistischen Bedingungen, die Existenz von Gewerkschaften zulassen, arbeitsrechtliche Standards gesetzlich festschreiben oder sozialpolitische Maßnahmen wie Mindestlöhne einführen – das erscheint auf den ersten Blick als Fortschritte zugunsten der arbeitenden Klassen –  sie verändern jedoch nicht die grundlegenden Eigentumsverhältnisse, auf denen die kapitalistische Produktionsweise und damit die gesellschaftliche Machtverteilung beruhen.

Solche Arrangements fungieren vielmehr als hegemoniale Strategien, mit denen die herrschende Klasse ihren Führungsanspruch aufrechterhält, ohne auf unmittelbaren Zwang zurückgreifen zu müssen.
Indem bestimmte Forderungen der Arbeiterklasse teilweise aufgenommen und institutionell verarbeitet werden, wird ihre Oppositionskraft abgeschwächt und das bestehende System als reformierbar und konsensfähig inszeniert.

Diese Art der Herrschaft im Sinne der Außenpolitik, d.h. der gesellschaftlichen Zustimmung zur nationalen Freund- und Feinderklärung ging viele Jahrzehnte gut.
Zur deutschen Rolle im Krieg gegen Vietnam gab es zwar zuerst Widerstand in einigen Teilen der Studentenschaft, aber auch diese konnte zuletzt mit der Institutionalisierung der Kriegsgegner beseitigt werden.
Warum der Kapitalismus alternativlos sei, konnte in der BRD über 40 Jahre mit der Existenz der DDR belegt werden: „Der Sozialismus ist nicht die Lösung, der Kapitalismus ist die Lösung. Das haben uns die Völker des Ostens durch ihre Revolutionen gezeigt.“ (Helmut Kohl, 1989)
Und danach reichte schon der Verweis, dass eines der beiden gesellschaftlichen Systeme noch existiere, während eines zusammenbrach.

Hierbei gab es natürlich immer vereinzelt Feinde dieses Status-Quo, aber nie nennenswert genug, um die herrschende Kultur zu gefährden.
Ohne Gegner des Status-Quo würde dieser auch auf das Problem stoßen, dass er seine Maske verliert, und tatsächlich alternativlos scheint.
Denn wo es in absolutistischen Gesellschaften noch den Zwang zum Folgen der herrschenden Kultur gab, braucht es diese im Kapitalismus nicht mehr:
„Freiheit“, „Fortschritt“, „Entwicklung“ – der westliche Kapitalismus und seine Staaten haben es geschafft, das „Für wen?“ aus jedem Aspekt der Kultur zu entfernen.
Spricht jemand von Wirtschaftswachstum, fragt niemand, für wen? Oder warum dass den prinzipiell gut ist?

Das gilt so weit, dass jedes Bewusstsein zur Wertschöpfung einfach gar nicht mehr existiert.
In der gesellschaftlichen Debatte um „Alternativen“ wird dann auf Staaten des globalen Südens verwiesen, mit der Pointe, dass es „uns“ ja besser gehe, ohne zu fragen; Warum denn? Warum sind denn einige Staaten reich und andere arm?

Ein bloßer Verweis auf die freiheitlich demokratische Grundordnung dieses Staates genügt, seine grundsätzlichen Mechanismen vernünftig scheinen zu lassen – niemand fragt, um wessen Demokratie und Freiheit es denn gehe.
Hierbei ist allein die Vorstellung, den Kapitalismus an sich zu hinterfragen, so weit entfernt, dass sich jegliche Feinde des Status-Quo, zumindest die, die sich als solche Verstehen, auf Scheinalternativen berufen.
Das gilt für die Rechten, die meinen, in der AfD eine strukturelle Alternative zu dem gefunden zu haben, wie es eben ist.
Das gilt aber genauso für die Linksliberalen, die denken, mit Sozialdemokratie strukturelle Änderungen herbeiführen zu können.

Diese Alternativlosigkeit zu etablieren, ging lange Zeit sehr gut:
Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Herrschaft über die Information mehr oder weniger simpel aufrechtzuerhalten.
Die Tagesschau war bis in die 2000er Jahre die wichtigste Informationsquelle für einen Großteil der Bevölkerung, erst ab Mitte der 2010er Jahre ging die Nutzung von Online-Nachrichtenportalen auf die 50% zu.
Diese Online-Nachrichtenportale, die meist unverändert an eine feste Redaktion mit etablierten Praktiken zur Informationsgewinnung gebunden waren, funktionieren insofern auch nicht anders im Sinne des Aufrechterhaltens der kulturellen Hegemonie – es gab nun mal keinen Grund, sich nach alternativen Medien zu erkundigen.
Der Informationsmarkt „öffnete“ sich insofern auch nicht grundsätzlich; klar, jedes Papiermedium hatte nun auch einen Onlinezweig – mehr aber auch nicht.

So wirklich ändern tat sich das erst während der Covid-Pandemie, und der sich drastisch schlechter werdenden materiellen Bedingungen hierzulande.
Die materielle Verschlechterung der Lebensverhältnisse, insbesondere der ärmeren Schichten, führte im Umkehrschluss zu einem weiten Misstrauen in meist ohnehin prekären Kreisen – auch dieses Misstrauen, was sich häufig in Verschwörungsmythen widerspiegelte, ist Folge des engen Griffs, den das Selbstverständnis des Kapitalismus über die herrschende Kultur hat.
Die Schuld der Inflation in der Profitlogik während der Krise zu finden ist durch die kulturelle Hegemonie keine Möglichkeit – die Profitlogik, d.h. dass Konzerne Profite schlagen, dass ist halt so.
So entstanden zwischen 2020 und 2022 tausende Telegram-Kanäle, die sowohl Folge als auch Ursache in das Bröckeln einzelner Teile des Vertrauens in den Staat sind.
Folge, weil materielle Verschlechterung prinzipiell zu einem Abstieg in Identifikation mit der herrschenden Kultur führt, und Ursache, weil diese neue Welle an alternativen Medien, so irrsinnig ihr Output auch meistens war, für viele (auch außerhalb der Hildmann-Bubble) das Bewusstsein für alternative, zum Teil oppositionelle, Meinungsfindung verstärkt haben.
Wir sagen natürlich nicht, dass die Corona-Leugner der Telegram-Kanäle irgendeinen progressiven Wert hatten, aber an ihnen ist sehr anschaulich der Zusammenhang zwischen materiellem Dasein und Identifikation mit der kulturellen Hegemonie zu erkennen.

IShowSpeed in China

Der US-amerikanische Streamer Darran Watkins, bekannt unter seinem Pseudonym „IShowSpeed“, oder einfach „Speed“, hat letzte Woche mehrere chinesische Städte, darunter Beijing, Shanghai, Chongqing und Chengdu, besucht und seine Erfahrungen über Twitch geteilt.
Watkins Besuch erreichte, wenn man alle Plattformen, Ausschnitte und Wiederholungen einbezieht, ungefähr 50 Millionen Menschen – eine Zahl, die mit keinem herkömmlichem Medium zu erreichen wäre.
Gerade der ungefilterter Einblick in den Alltag vieler Chinesen, aber auch die modernen Fassaden und Infrastrukturen der Tier Eins- und Zwei-Städte, animierte Hunderttausende dazu, ihr Überraschen bzgl. der chinesischen Realität zum Ausdruck zu bringen:
„Ist China jetzt so fortschrittlich? Das wirft mein 30 Jahre altes Verständnis von China über den Haufen. Ich habe mich so viele Jahre lang von den so genannten Mainstream-Medien täuschen lassen, und ich möchte nach China reisen, um zu sehen“ liest sich ein TikTok-Kommentar mit 3800 Likes, ein anderer User schreibt: „Die USA haben Milliarden für Anti-China-Propaganda ausgegeben, nur um von Red Note (die chinesische TikTok-Version, KP) und IShowSpeed Stream rückgängig gemacht zu werden“, 4200 Likes.
Das chinesische Auslandsministerium kommentiert den Besuch, „Das einmalige Live-Streaming ausländischer Influencer zeigt China, wie es ist, in einer Panoramaansicht, die nicht bearbeitet oder gefiltert wurde“, und bietet Watkins ein zehnjähriges Visum für China an.

Unabhängig von der eigenen Position zu China; die Entwicklung der Mittel zur Produktion von Information, die in den letzten 20 Jahren das Informationsmonopol von einem weitgehend zentralisierten, monopolisierten Medienapparat zu einem in weiten Dingen dezentralisierten, leicht zugänglichem Netzwerk verschoben hat, macht es für die herrschende Klasse fortlaufend unmöglich, den Griff über die ideologische Hegemonie zu halten.

Versuche, den Informationsfluss wieder unter ein kontrollierbares Dach zu bringen, wie der kurzfriste Bann TikToks, führen im Umkehrschluss zur weiteren Verschärfung des Widerspruchs zwischen herrschender Ideologie und subjektiver Wahrnehmung, da direkte Eingriffe in den Informationsfluss den Schleier der Freiwilligkeit der herrschenden Ideologie aufheben – so führte der TikTok-Bann dazu, dass Milionen von Menschen die chinesische TikTok-Variante „Red Note“ ausprobierten – Folge waren Kommentare wie die oben genannten.

Ganz aktiv kann dieser Bruch am Völkermord in Gaza beobachtet werden; die Existenz der unglaublichen Menge an privatem Filmmaterial, unmittelbarer Aufnahmen der israelischen Kriegsverbrechen und ständigen Nachrichten neuer Grauen der Palästinenser (eben abseits der bisher dominanten Nachrichtenportale) im Kontrast zu der aktiv hegemonialen Berichterstattung der Tagesschau, des Guardians, der Bild und Co. hat einen niemals dagewesenen Bruch mit der kulturellen Hegemonie hierzulande angeführt.
Schaut man in die Kommentarspalten der Tagesschau, der New York Times oder sonstiger bürgerlicher Berichterstatter zum Thema Palästina, entgegnet man einem Maß an Kritik, dass einzig wegen der Entwicklung der Informationstechnologie existiert.

Das produktive an solchen Brüchen existiert nur, weil das ganze System der kulturellen Hegemonie auf Sand gebaut ist.
Die Entwicklung der Produktivkräfte, zu denen eben auch Informationsmedien gehören, steht fortlaufend im Widerspruch zum Erhalt des Status-Quo.
Die Zustimmung der Beherrschten zur Herrschaft durch Übernahme der Ideologie der herrschenden Klasse kann nicht in einer medienwirksamen, rasch entwickelnden und informierten Gesellschaft aufrechterhalten werden.

Verbunden mit der Abwärtsentwicklung der materiellen Bedingungen in nahezu allen Staaten des globalen Nordens, öffnet dieser Aspekt des Widerspruchs zwischen Produktivitätsniveau (d.h. der Entwicklung der Informationstechnologie) und Grenzen der bürgerlich-demokratischen Hegemonie (wie die Notwendigkeit, die Herrschaft sowohl als Alternativlos als auch als Freiwillig darzustellen) die Tore für das Ende, wenn nicht zumindest die Krise, der bürgerlichen Herrschaft als Alternativlos wahrgenommenes Konstrukt.
Ergreift ein Staat Möglichkeiten den Informationsfluss wieder aktiver hegemonialer Kontrolle unterzuordnen (wie den TikTok-Bann), widerspricht dass dem wichtigsten Element seiner Hegemonie; die vorgekauelte Freiheit.

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