Herrschaft auf Rachefeldzug
Herrschaft auf Rachefeldzug
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Die Palästina-Solidarität schadet der Staatstreue:
Warum die Palästina-Bewegung so ein Dorn im Auge des deutschen Staates ist, warum einige Proteste toleriert werden und andere nicht und wie Berlin aufsässige Demonstranten einfach abschieben will.

Reminder: Die rot-markierten Wörter sind Links, die zu entsprechenden Kritikpunkt-Artikeln führen.
Wir empfehlen, im Vorhinein unseren letzten Beitrag „Der Tod der Hegemonie“ zu lesen oder zu hören, dieser befasst sich enger mit den theoretischen Aspekten der kapitalistischen Hegemonie, die auch in diesem Beitrag praktisch thematisiert werden.
Zum Thema Palästina haben wir eine ganze Kategorie, bei der es sich lohnt durchzuklicken; explizit empfehlen wir „Widerstand und Terror“ (über die Klassifizierung der Hamas und der Logik hinter ihrer Existenz), „Kapital greift Gaza“ (über die Logik hinter der US-Politik gegenüber Palästina und warum Deutschland mit macht) und „Vor dem 7. Oktober“ (eine umfassende Darlegung der Entstehung Israels, des palästinensischem Widerstands und des Zionismus).
Das deutsche und befreundete Kapital sieht sich durch die Mitschuld am Völkermord in Gaza nach wie vor gefährdet, die Staatstreue weiter Teile der Bevölkerung zu verlieren.
Da die Solidarität mit dem palästinensischem Volk weit über die gewohnten, konsequent linken, Teile der Menschen in diesem Land hinausgeht, sieht sich der deutsche Staat gezwungen, mit unbekannter Härte gegen die Gegner der Staatsräson durchzugreifen.
Die Politik der BRD bezüglich den Untreuen liest sich wie eine Perversion von Poppers Toleranzparadox‘: Eine kapitalistische Gesellschaft darf nur so lange tolerant sein, wie die Toleranz nicht die eigenen Interessen gefährdet.
Wo vergangene gesellschaftliche Unruhen in der BRD sich meist auf bestimmte politische und gesellschaftliche Nischen beschränkten, liefert der Völkermord in Gaza so eine unerhörte Menge an Filmmaterial, Opferaussagen und Daten, dass der Widerstand gegen ihn, selbst weite Teile der sonst apolitischen Bevölkerung erreicht.
Ginge es hierbei um den Konflikt in der Ukraine, bei dem es zu Beginn ähnliche Reaktionen gab, würde das den deutschen Staat auch nicht weiter stören; es geht aber um einen Gegenstand, der nicht nur den Interessen des deutschen Kapitals im Weg steht, sondern das Risiko birgt, einen Bruch mit der Identifikation zur Herrschaft herbeizuführen.
Damit ein moderner bürgerlicher Staat funktioniert, müssen die Bewohner jenes Staates ihre Interessen, mit denen der herrschenden Klasse gleichsetzen.
Das funktioniert in der BRD auch recht gut: Spricht die Herrschaft davon, dass BIP sei gestiegen oder gefallen, wird das als „gut“ oder „schlecht“ für die Gesamtgesellschaft gesehen.
Spricht die Herrschaft davon, man würde in der Ukraine die deutsche Demokratie verteidigen, dann wird das angenommen – die Interessen des Staates scheinen als Interessen des Subjekts.
Gibt es einen Bruch in dieser Gleichsetzung von Interessen, hat der bürgerliche Staat ein großes Problem.
Denn auf einen Bruch, können viele weitere Folgen – und bricht das Subjekt vollkommen mit der Vorstellung, dieser Staat würde seine Interessen repräsentieren, begeht es wohlmöglich Staatsuntreue.
So dreht der deutsche Staat nach knapp 500 Tagen Mitverantwortung am Völkermord in Gaza die Mittel zur Sicherung der Staatstreue auf.
Besetzungen und Protest
Wie viele andere Universitäten Weltweit wurde auch die Freie Universität Berlin (FU) im Sommer letzten Jahres teilweise besetzt, um hier medienwirksam die Aufmerksamkeit auf den Völkermord in Gaza zu fördern, und im Falle der FU die Toleranz des Völkermords (im Sinne der akademischen Zusammenarbeit mit israelischen Universitäten) anzuprangern.
So wurden bereits im Mai sowie im Juni Protestcamps auf dem Campus sowie dem Henry-Ford-Bau der FU errichtet, ein „Student Palestinian Committee“ gegründet und medienwirksam auf die Komplizenschaft der BRD mit dem Völkermord in Gaza aufmerksam gemacht.
Nach dem Ende der Encampments, versuchten im Oktober 2024 etwa 40 Studierende kurzzeitig das Präsidiumsgebäude der FU Berlin zu besetzen.
Am Mittag des 17. Oktober riefen Studierende, die sich schon innerhalb des Präsidiums befanden, dazu auf, dass alle Mitarbeitenden das Gebäuden verlassen sollen.
Die Studierenden innerhalb des Gebäudes hingen einen Banner auf, der verkündete, dass „Wenn Cops das Gebäude betreten (…) die Technik“ zerstört werden würde.
Eine der Mitarbeitenden der Universität drohte den Studierenden des Allgemeinen Studierendenausschuss‘ (AStA), sie sollen „nur warten“, bis sie „exmatrikuliert“ werden würden.
Nach wenigen Minuten traf die Polizei ein, sie betraten ohne Absprache mit Vertretern des AStA das Gebäude.
Rund 30 der besetzenden Studierenden flohen aus dem Präsidium, einer der fliehenden wurde von drei Polizisten „brutal zu Boden geworfen“ – Demo-Sanitäter behandelten die von der Polizei verletzten Personen.
Einige bürgerliche Medien berichten davon, Mitarbeitende der Universität seien im Verlauf der Besatzung „körperlich angegriffen worden“ (BZ) – diese These stammt von der FU direkt, die sich seit den Anfängen der Gaza-Proteste auf ihrem Campus nicht nur geweigert hat, irgendwelchen der Forderungen ernsthaftes Gehör zu bieten, sondern von Anfang an durch direkte Kooperation mit Polizei und „Rechtsstaat“ versucht hat, die Proteste zu brechen.
Für die Thesen der verletzten Mitarbeitenden gibt es keine Beweise; die beteiligten Protestierenden verneinen jegliche Form von körperlicher Gewalt, außerhalb der ihnen widerfahrenden Polizeigewalt.
Das Asta der FU berichtete am 29.10, dass keine Mitarbeiterin von „körperlicher Gewalt gegen sie“ berichtet hätten.
Die Berichterstattung bezüglich der Besetzung sprach wiederholt davon, dass „mehrere Personen verletzt“ (RBB) worden sein, ohne zu erwähnen, dass jene Verletzungen auf Seite der Demonstrierenden zu verzeichnen waren.
Verlorene Kultur
Bevor ich zu den dramatischen Folgen der Besetzung komme, muss eine Sache klargestellt werden: Bis vor wenigen Jahren waren Universititätsbesetzungen, oft weitaus dramatischer als die Misslungene Besetzung im Oktober, schlichtweg teil universitärer Politik.
2009 wurden, in Folge des Bologna-Prozesses, oft wochenlang Universitätsräume in ganz Deutschland (und darüber hinaus) besetzt, um gegen die Umstrukturierung des Universitätssystems zu protestieren.
In Berlin (FU, HU, TU), Köln (Uni Köln), München (LMU, TU), Marburg, Leipzig und etlichen weiteren Universitäten wurden Hörsäle, Bibliotheken und Rektorate besetzt – Die Folgen? Minimal.
Im Verlauf der Monatelangen Besetzungen von insgesamt über 60 Universitätsräumen kam es nur In vier Fällen (Münster, Bonn, Frankfurt, Heidelberg) zu polizeilichen Räumungen, nahezu alle Strafanzeigen wegen Hausfriedensbruch wurden fallen gelassen.
Die wenigen Anzeigen, die zur Verurteilung kamen, führten nicht einmal zu mehr als einer Geldstrafe.[1]
Die Proteste und Universtitätsbesetzungen im Oktober 2022 in Göttingen, Duisburg, Marburg, Karlsruhe oder Erlangen, die unter der Bewegung „End Fossil: Occupy!“ stattfanden führten ebenfalls zwar im Einzelfall zu Strafanzeigen wegen Hausfriedensbruch (im Fall der Goethe-Universität Frankfurt), zogen ansonsten jedoch keine rechtlichen Folgen mit sich – Wieder ist anhand der einsehbaren Informationen davon auszugehen, dass keine der Strafanzeigen zur Verurteilung führten.
Diese Besetzungen, darüber hinaus die Anti-Atomkraft-Besetzungen, die Irakkrieg-Besetzungen und selbst die ein Jahr andauernde „UniMut“-Besetzung der FU, teilen allesamt das ausschlaggebende Merkmal, dass sie kein Risiko für die allgemeine Identifikation mit dem deutschen Staat darstellen.
Eine Besetzung, eine Bewegung, jegliche Form des Protest, die kein Risiko dafür darstellt, dass eine Masse außerhalb der schon bestehenden Bewegung sich mit den Zielen der Bewegung identifiziert (falls diese im Widerspruch zu den Interessen des Staates stehen), birgt keine Notwendigkeit, weitreichende Strafrechtliche Maßnahmen oder Polizeigewalt in Kauf zu nehmen, da Berichte von Polizeigewalt und unverhältnismäßiger Strafrechtlicher Verfolgung wiederum die Identifikation mit dem Staat für außenstehende schwächen können.
Wo selbst Bewegungen wie die 1968er Bewegung, die wohl eine der bedrohlichsten Bewegungen für die BRD war, es versäumt haben, sich nennenswert außerhalb der Studierendenschaft zu etablieren, hat es die Palästina-solidarische Bewegung längst hinbekommen, sich innerhalb aller arbeitenden Schichten zu verankern.
Die bürgerliche Berichterstattung zum Völkermord in Gaza hat dazu geführt, dass 48% der Menschen in Deutschland „wenig oder gar kein Vertrauen in die deutsche Berichterstattung zum Krieg in Gaza und Israel“ hat, nur 38% empfinden die Berichterstattung als „ausgewogen“ (NDR ZAPP-Umfrage, 28.08.2024, Werte seitdem wohl angestiegen).
Die „Sicherheit Israels als deutsche Staatsräson“ findet mittlerweile nicht einmal mehr 30% Zustimmung unter der deutschen Bevölkerung (ELNET), nur 14% Befürworten die weitere militärische Unterstützung Israels durch Deutschland (TRT).
Selbst bzgl. dem Afghanistan-Krieg, der prozentual gesehen Deutschlands kontroverseste militärische Teilhabe war (knapp gefolgt von der Unterstützung des Vietnamkriegs), sprachen sich acht Jahre nach Beginn des Krieges nur 69% für „einen schnellen Abzug der Truppen“ aus (ARD-Deutschlandtrend, Dezember 2009).
Und selbst diese hohe Ablehnung gefährdete nur schwer einen Bruch mit der Identifikation der deutschen Interessen.
Die Bilder des unfassbaren Grauens aus Gaza sind heute allgegenwärtig, so wie die Bilder der US-Zerstörung Afghanistans es 2009 noch gar nicht sein konnten.
Die Bundesrepublik hatte die Sicherheit Afghanistans nicht als Staatsräson – Deutschland macht diesen Völkermord zu seinem eigenen, die Erzählung vom Rechtsstaat (was an sich ein ziemlich leeres Konstrukt ist) verliert an Glaubwürdigkeit, wo die Gegenwartspolitik die Kontinuitäten kolonialer und machtpolitischer Interessen offenbart.
Staatsräson Abschiebung
Was sind nun also die Folgen der FU-Besetzung letzten Oktober?
Vier der Demonstrierenden, die an der Besetzung beteiligt waren, und das Unglück haben, keine deutschen Staatsbürger zu sein, sollen wegen Teilnahme an der Besetzung abgeschoben werden.
Um genau zu sein: Da es sich um zwei Iren, einen Polen und einen US-Amerikaner handelt, spricht man im Falle der EU-Bürger vom „Verlust der Freizügigkeit“, statt von Abschiebung (über die grundsätzliche Absurdität des Abschiebens: „Abschiebungen und Flüchtlinge„).
Den vier Solidaristen wird vorgeworfen, „Mitarbeiter der Universität bedroht und Bürotechnik zerstört“ zu haben, „Widerstand gegen Vollzugsbeamte geleistet“ zu haben und „verbotene Symbole und Parolen verwendet“ zu haben.
Natürlich darf ein Antisemitismus-Vorwurf im Zusammenhang mit den verbotenen Parolen nicht fehlen – die Beschuldigten bestreiten jedoch jeden Zusammenhang.
Die Vier Betroffenen äußern sich in einer Schriftlichen Mitteilung: „Unsere Ausweisung ist politisch motiviert.“ Es sei ein Versuch, die gesamte Bewegung einzuschüchtern, heißt es weiter. „Die Polizeigewalt geht Hand in Hand mit dieser repressiven Auslegung des Migrationsrechts, um pro-palästinensische Stimmen zum Schweigen zu bringen.“ Sie betonen außerdem, dass sie nicht strafrechtlich verurteilt seien.
Das bestätigte auch der Anwalt von zwei der Beschuldigten, Alexander Gorski. Auch er sieht nach eigenen Angaben hinter der Ausweisung eine politische Motivation. (rbb24)
Ganz besonders absurd ist das Ganze, weil eben keiner der Vier bisher verurteilt wurde.
Im Sinne der „Unschuld, bis die Schuld bewiesen wurde“, d.h. dem 11. Artikel der Menschenrechtskonvention, ist diese Abschiebung, sollte sie tatsächlich vollzogen werden, also ein knallharter Verstoß gegen die Menschenrechte:
„Ich halte diese Bescheide für klar rechtswidrig und sehe darin den politischen Versuch, die palästinensische Bewegung über das Migrationsrecht anzugreifen“, sagt Rechtsanwalt Gorski gegenüber der Jungen Welt, „Neu an diesem Vorgehen ist, dass unseren Mandanten ohne Belege unterstellt wird, sie würden Antisemitismus verbreiten, indirekt die Hamas unterstützen. Außerdem wird mit dem Begriff der Staatsräson hantiert (…) Die Räson ist aber kein rechtlicher Begriff, sondern ein politischer. Und schon daraus ergibt sich der politische Charakter dieser Verfahren“.
Bezüglich der Absurdität der ganzen sagt Gorski: „Aus der Akte ergibt sich, dass es Druck durch die Berliner Senatsverwaltung des Inneren gab, damit diese Bescheide erlassen werden. Obwohl das Landesamt für Einwanderung hinsichtlich der EU-Bürger rechtliche Bedenken – die wir als Anwälte teilen – angemeldet hatte.“
Kurzgefasst, das Land Berlin versucht mit aller Härte, so absurd diese auch scheint, die Palästina-solidarische Bewegung zu brechen – obwohl auch wieder hier die Frage ist, was das ganze bringen soll?
Christian Hochgrebe, der Staatssekretär für Inneres des Landes Berlin, kommentierte das ganze schlicht mit „Wir können so etwas nicht tolerieren und wollen es auch nicht.“
Was könne denn genau nicht toleriert werden? Die versuchte Besetzung der FU? Wie oben dargelegt gehörten Uni-Besetzungen einmal zur universitären Politik dazu und wurden sehr wohl ständig toleriert.
Sachbeschädigung? Diese Vier Demonstrierenden sollen wegen Sachbeschädigung abgeschoben werden?
Nein, selbstverständlich nicht.
Die BRD sitzt in der Klemme; zum einen hat sie eine stehts wachsende Palästina-solidarische Bewegung mit einer sich politisierenden Jugend an der Backe, die das Risiko birgt, einen Bruch mit der Identifikation mit Deutschland herbeizuführen, und zum anderen kann die BRD ihre Interessen in Gaza nicht zurücklassen.
Ein Bruch mit Israel, mit der Räson diesen Staates, wäre ein Bruch mit dem US-Kapital, den geopolitischen Interessen in Nahost und der kapitalistischen Logik für sich – dieser Völkermord ist kein Beiprodukt des Staates Israels, er ist sein Gegenstand.
Geht die BRD jedoch weiterhin mit diesem unerhörtem Maße an Repression der Palästina-solidarischen Bewegung vor, birgt sie ebenfalls das Risiko der weiteren Aufmerksamkeit auf die deutsche Mitschuld am Völkermord in Gaza.
Solidarität mit den Vier Aktivisten, und alle anderen Widerständigen.
Die Integration der Jugend in das bestehende System gelingt nur durch ihre Enthauptung.
[1] Nach umfangreicher Recherche können wir nur zu diesem Punkt kommen; es ist theoretisch möglich, dass es zu Bewährungsverurteilungen kam, hierzu gibt es jedoch keine Berichte, Aussagen oder öffentlich zugänglichen Urteile, die darauf deuten könnten.