Teil 4: Gewalt und Vertreibung (1990 bis 2005)
Teil 4: Gewalt und Vertreibung (1990 bis 2005)

Parallel zu den Massakern an der kaschmirischen Zivilbevölkerung begannen islamistische Gruppen wie die Hizbul Mujahideen und später Lashkar-e-Taiba sowie Jaish-e-Mohammed in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren eine systematische Kampagne gegen die hinduistische Minderheit der Kaschmiri Pandits im Tal.
Es kam zu gezielten Morden, Vergewaltigungen, Einschüchterungen und Drohungen – in Moscheen wurden über Lautsprecher Drohungen ausgesprochen, Hindus sollten das Tal „ohne ihre Frauen“ verlassen.
Zeitungen wie die Aftab veröffentlichten Warnungen und Drohungen militanter Gruppen, alle Hindus müssten Kaschmir umgehend verlassen.
In den folgenden Monaten wurden laut Schätzungen etwa 300 hinduistische Frauen und Männer ermordet und teilweise vergewaltigt. Die Gewalt kulminierte in einem Pogromklima, das zum Massenexodus am 19. Januar 1990 führte. Rund 65.000 Pandit-Familien flohen aus Angst vor der eskalierenden Gewalt.
Viele Pandit-Gemeinschaften siedelten sich in provisorischen Flüchtlingslagern rund um Jammu oder Delhi an – unter oft katastrophalen Bedingungen. Der indische Staat versäumte es, den Schutz der Minderheit sicherzustellen oder effektive Maßnahmen für eine sichere Rückkehr zu schaffen. Noch Jahrzehnte später (Stand 2016) lebten nur 2.000 bis 3.000 Pandits im Kaschmirtal.
Gleichzeitig führten weitere Massaker durch indische Sicherheitskräfte gegen Demonstrierende und Unbeteiligte – wie das Bijbehara-Massaker im Oktober 1993, bei dem 43 (nicht 51) unbewaffnete Zivilisten von der paramilitärischen BSF erschossen wurden – zu wachsender Radikalisierung unter Teilen der kaschmirischen Jugend. Viele Jugendliche schlossen sich infolgedessen islamistischen Untergrundgruppen an.
In den 1990er Jahren kam es zu einem Anstieg von Verschwindenlassen, extralegalen Hinrichtungen, Folter und sexueller Gewalt durch indische Armee- und Polizeieinheiten. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International, Human Rights Watch und die Jammu Kashmir Coalition of Civil Society (JKCCS) dokumentierten tausende solcher Fälle und warfen den indischen Behörden systematische Menschenrechtsverletzungen vor.
Ende des bewaffneten Widerstands
Die massenhaften Tötungen und Repressionen gegen sämtliche fundamental-oppositionellen und widerständigen Gruppierungen führten in den frühen 1990er Jahren zum weitgehenden Ende des bewaffneten Widerstands vieler Organisationen.
Gleichzeitig stellte Pakistan zunehmend die finanzielle und logistische Unterstützung für jene kaschmirischen Unabhängigkeitsbewegungen ein, die sich nicht für einen Anschluss an Pakistan, sondern für ein vollständig unabhängiges Kaschmir einsetzten.
Die Jammu and Kashmir Liberation Front (JKLF), die zuvor als eine der wichtigsten säkularen Unabhängigkeitsbewegungen galt, erklärte 1994 offiziell den Verzicht auf bewaffneten Widerstand, nachdem ein Großteil ihrer Kämpfer getötet, inhaftiert oder entwaffnet worden war.
Der de-facto-Sieg des indischen Staates über die JKLF wurde teilweise durch die Kooperation pro-pakistanischer islamistischer Gruppen wie Hizbul Mujahideen ermöglicht, die in mehreren Fällen mit indischen Sicherheitskräften zusammenarbeiteten, um die JKLF auszuschalten.
Die Aufgabe des bewaffneten Kampfes führte zu einer Spaltung der JKLF: Ein Flügel agierte weiterhin aus dem pakistanisch kontrollierten Teil Kaschmirs und hielt an der militanten Strategie fest, während der Flügel auf indisch kontrolliertem Gebiet auf gewaltfreie Mittel setzte.
2002 benannte Amanullah Khan, Vorsitzender der im pakistanisch verwalteten Kaschmir operierenden JKLF, in einem Interview mit Reuters pakistanisch unterstützte militante Gruppen als mitverantwortlich für die Marginalisierung der JKLF:
„Ich sage seit zwei bis drei Jahren, dass (nicht-kaschmirische Militante) den kaschmirischen Freiheitskampf in Terrorismus verwandeln.“
Nach jahrelanger direkter Zentralverwaltung und militärischer Kontrolle wurde 1996 erneut eine Regionalregierung eingesetzt.
Farooq Abdullah kehrte als Chief Minister von Jammu und Kaschmir zurück und bildete eine Regierung unter dem Dach der Indischen Nationalkongresspartei.
Trotz der offiziellen Rückkehr zur zivilen Regierung blieb der Ausnahmezustand faktisch bestehen – die indischen Sicherheitskräfte operierten weiterhin mit weitreichender Straffreiheit unter Gesetzen wie dem Armed Forces (Special Powers) Act (AFSPA). Große Teile der Bevölkerung waren politisch desillusioniert und entfremdet.
Die Wahlbeteiligung war niedrig, zahlreiche Distrikte blieben aufgrund von Boykottaufrufen, Angst vor Repression oder militanter Einschüchterung faktisch von freien Wahlen ausgeschlossen.
Kargil
Die Situation in Kaschmir blieb bis 1999 weitestgehend unverändert.
Neu-Delhi versuchte vereinzelt, durch Hilfsprogramme, wirtschaftliche Anreize und infrastrukturelle Maßnahmen die Lage zu stabilisieren und einer weiteren Militarisierung der lokalen Widerstandsbewegung entgegenzuwirken. Diese Maßnahmen wurden jedoch von großen Teilen der kaschmirischen Bevölkerung als unzureichend und rein kosmetisch wahrgenommen, da sie keine substanzielle politische Perspektive boten und die grundlegenden Forderungen nach Selbstbestimmung, Mitbestimmung oder einem Ende der militärischen Repression nicht berührten. Der Unmut über die anhaltende Repression, die Präsenz von über 500.000 Soldaten und die weitgehende Straffreiheit der Sicherheitskräfte blieb bestehen.
Im Winter 1998/99 infiltrierten pakistanische Soldaten und Kämpfer paramilitärischer Gruppen unter dem Decknamen „Operation Badr“ heimlich die Kargil-Region auf indischer Seite der Line of Control (LoC). Sie besetzten dabei strategisch wichtige Höhenpositionen in einem Gebiet, das im Winter üblicherweise geräumt wird. Ziel der Operation war es, Indien unter Druck zu setzen, die Kaschmir-Frage international zu machen und möglicherweise eine Wiederaufnahme der Diskussion über eine Volksabstimmung nach der UN-Resolution von 1948 zu erzwingen. Pakistan hoffte, dass sich die Stimmung in der kaschmirischen Bevölkerung mittlerweile eindeutig gegen Indien und für einen Anschluss an Pakistan gewendet hätte.
Indien reagierte mit einer großangelegten militärischen Gegenoffensive („Operation Vijay“) und konnte nach heftigen Kämpfen binnen weniger Monate fast alle besetzten Stellungen zurückerobern. Der Krieg dauerte von Mai bis Juli 1999 und kostete über 1000 Menschen das Leben, darunter vor allem Soldaten beider Seiten.
Der Kargil-Krieg wurde international als besonders besorgniserregend eingestuft, da beide Staaten 1998 erstmals offiziell Kernwaffentests durchgeführt hatten – es war somit der erste militärische Konflikt zwischen zwei Atommächten.
Die USA, unter Präsident Bill Clinton, übten starken diplomatischen Druck auf Pakistan aus. Washington stellte klar, dass es die Infiltration als Aggression ansah und drängte Pakistan zum vollständigen Rückzug hinter die Line of Control. Der internationale Druck, insbesondere von den USA und G8-Staaten, sowie die militärische Lage veranlassten Pakistan schließlich zum Rückzug, was innenpolitisch als Niederlage für Premierminister Nawaz Sharif gewertet wurde.
Amarnath
2008 entschied die Landesregierung Jammu und Kaschmirs unter Ghulam Nabi Azad (Indischer Nationalkongress), rund 40 Hektar Land im Kaschmirtal an das Shri Amarnathji Shrine Board zu übertragen, um dort temporäre Unterkünfte für hinduistische Pilger während der jährlichen Amarnath-Wallfahrt einzurichten.
Diese Entscheidung löste massive Proteste in der muslimisch geprägten Bevölkerung des Tals aus. Viele Kaschmiris sahen darin einen Angriff auf die demografische und kulturelle Zusammensetzung der Region sowie auf ihren Sonderstatus gemäß Artikel 370 der indischen Verfassung. In der Bevölkerung verbreitete sich die Befürchtung, dass dies ein erster Schritt zu einer dauerhaften Ansiedlung von Hindus aus dem übrigen Indien im Kaschmirtal sein könne.
Wie die International Crisis Group 2010 zusammenfasste:
„There is an overwhelming perception in Kashmir that land transfer to the Shri Amarnath Shrine Board will undermine their special status under Article 370 of the Constitution and is a ploy to settle outsiders in the Valley.“ [6]
Infolge der Ankündigung kam es zu einer der größten Protestwellen in der Geschichte Kaschmirs. Unter Beteiligung der JKLF (Jammu and Kashmir Liberation Front), die seit 2005 wieder vereint agierte und dem bewaffneten Widerstand abgeschworen hatte, demonstrierten bis zu 500.000 Menschen gleichzeitig gegen die Landübertragung.
Wie Arundhati Roy es zusammenfasste:
„To many people in the valley this dramatic increase in numbers was seen as an aggressive political statement by an increasingly Hindu-fundamentalist Indian state. […] It triggered an apprehension that it was the beginning of an elaborate plan to build Israeli-style settlements, and change the demography of the valley.“ [7]
Die indischen Sicherheitskräfte reagierten mit massiver Gewalt: Tränengas, Schlagstöcke, Gummigeschosse und auch scharfe Munition kamen zum Einsatz. Zwischen Juni und August 2008 wurden dabei 38 bis 40 Menschen getötet, über 1.000 Personen erlitten Verletzungen.
Am 1. Juli 2008 sah sich die Regierung gezwungen, die Entscheidung zur Landübertragung zurückzunehmen. Dies führte in der mehrheitlich hinduistischen Region Jammu zu massiven Gegendemonstrationen, bei denen wiederum muslimische Händler und Lastwagenfahrer Ziel von Angriffen wurden. Es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen, in deren Verlauf über 70 muslimische Häuser in Brand gesteckt wurden. Genaue Opferzahlen sind nicht dokumentiert.
Als Reaktion auf die Eskalation erhöhte die indische Regierung die Zahl der stationierten Soldaten im Bundesstaat Jammu und Kaschmir auf über 500.000 – bei einer damaligen Gesamtbevölkerung von rund 12 Millionen. Die daraus folgende Blockade der Hauptverbindungsstraße zwischen Jammu und dem Kaschmirtal führte zu akuten Versorgungsengpässen im Tal, insbesondere bei Medikamenten, Lebensmitteln und Treibstoff.
[1] https://sites.tufts.edu/praxis/2023/06/18/the-plight-of-kashmiri-pandits/
[2] https://www.ndtv.com/india-news/over-64-800-kashmiri-pandit-families-left-valley-in-early-1990s-centre-2921548
[3] Bose, Kaschmir: Roots of Conflict, Paths to Peace 2003, S. 130.
[4] https://archive.ph/20130122160202/http://www.expressindia.com/news/fullstory.php?newsid=6383 (Übersetzt von Kritikpunkt)
[5] https://www.kas.de/documents/252038/253252/7_dokument_dok_pdf_1224_1.pdf/d0ae738f-3a86-4508-ade0-a34fc739ba9c?version=1.0&t=1539668048629
[6] https://www.indiatoday.in/magazine/states/story/20080825-divide-and-be-damned-737275-2008-08-13
[7] https://www.theguardian.com/world/2008/aug/22/Kaschmir.india