Teil 5: Folter als Strategie (2008 bis 2018)
Teil 5: Folter als Strategie (2008 bis 2018)

2008 und 2009 kam es weiterhin wiederholt zu teils ungeklärten Gewalttaten an kaschmirischen Zivilist:innen durch indische Sicherheitskräfte, darunter auch der sogenannte „Machil fake encounter“: Im Jahr 2010 wurden drei junge Männer aus dem Distrikt Baramulla unter dem Vorwand, sie seien pakistanische Infiltratoren, an der Kontrolllinie (LoC) von indischen Soldaten getötet. Später stellte sich heraus, dass sie in einem inszenierten Gefecht ermordet worden waren, um den Tätern Beförderungen und Prämien zu sichern. Der Vorfall löste breite Empörung aus und wurde zum Symbol für die Straflosigkeit indischer Sicherheitskräfte. [1]
Am 11. Juni 2010 eskalierte die Lage erneut, als der 17-jährige Schüler Tufail Ahmad Mattoo in Srinagar auf dem Heimweg von einem Nachhilfeunterricht von einer Tränengasgranate der Polizei am Kopf getroffen und getötet wurde. Er war kein Teilnehmer einer Demonstration.
Sein Tod wurde zum Katalysator für eine monatelange Protestwelle, die sich über das gesamte Tal erstreckte. Die Proteste wurden hauptsächlich von Jugendlichen getragen und richteten sich gegen die allgegenwärtige Militarisierung, die systematischen Menschenrechtsverletzungen sowie die exzessive Gewaltanwendung durch indische Sicherheitskräfte. [2]
Führende separatistische Persönlichkeiten wie Syed Ali Shah Geelani (Hurriyat) und der Mirwaiz Umar Farooq riefen zu Generalstreiks („hartals“) und zur vollständigen Entmilitarisierung der Region auf.
Im Verlauf der Proteste im Sommer und Herbst 2010 wurden laut offiziellen Angaben mindestens 117 Menschen getötet, die meisten von ihnen Teenager und junge Erwachsene – das jüngste Opfer war ein 11-jähriges Kind.
Zudem wurden Tausende verletzt, viele davon schwer. Lokale Menschenrechtsgruppen und Organisationen wie das Jammu Kashmir Coalition of Civil Society (JKCCS) und Amnesty International berichteten von mindestens elf gezielten Tötungen durch Angehörige der paramilitärischen Zentralreservepolizei, darunter acht Minderjährige im Alter zwischen 13 und 19 Jahren. [3]
Die indischen Sicherheitskräfte setzten neben Tränengas und Gummigeschossen auch scharfe Munition gegen Demonstrierende ein.
Internationale Beobachter und NGOs dokumentierten willkürliche Festnahmen, Misshandlungen in Gewahrsam sowie das gezielte Schießen auf Protestierende – oft mit tödlichen Folgen. Menschenrechtsorganisationen warfen der indischen Regierung und ihren Sicherheitsorganen übermäßige Gewalt, Straflosigkeit und systematische Menschenrechtsverletzungen vor.
Die Zentralregierung in Neu-Delhi wies die Verantwortung weitgehend von sich und machte – wie in früheren Protestphasen – „pakistanische Hintermänner“ oder den ISI (Geheimdienst Pakistans) für die Eskalation verantwortlich. Diese Schuldzuweisung ist ein wiederkehrendes Narrativ, mit dem die Regierung Versuche einer politischen Aufarbeitung untergräbt und den Unmut der Bevölkerung als „fremdgesteuert“ delegitimiert.
Im Zuge der anhaltenden Proteste trafen sich auch Vertreter:innen der hinduistischen Minderheit der Kaschmiri Pandits mit dem damaligen Finanzminister Pranab Mukherjee. Sie warnten vor einer Aufweichung des umstrittenen Sondergesetzes Armed Forces (Special Powers) Act (AFSPA), das es der indischen Armee erlaubt, ohne Haftbefehl festzunehmen und im Ausnahmefall zu töten.
Farooq Abdullah verurteilte die Gewalt und sprach sich wie sein Sohn, der damalige Chief Minister Omar Abdullah, für eine Reform oder Abschaffung des AFSPA in bestimmten Gebieten aus. Die hindunationalistische BJP hingegen lehnte jede Veränderung ab und bekräftigte erneut ihre Behauptung, Pakistan sei für die Proteste verantwortlich. [4]
Korruption und Eskalation
Am 24. September 2013 sorgte der frühere indische Generalstabschef V. K. Singh für Aufsehen, als er öffentlich einräumte, dass Politiker:innen in Jammu und Kaschmir regelmäßig vom militärischen Geheimdienst Indiens finanziert wurden. Ziel dieser Praxis sei es, „Stabilität“ zu gewährleisten und die Bevölkerung von separatistischen Aktivitäten abzuhalten. Singh erklärte, diese Zahlungen fielen unter das sogenannte Sadbhavna-Programm (Harmonie) und hätten eine lange Tradition – bis zurück in die Zeit der Teilung Britisch-Indiens:
„Es diente ausschließlich der Stabilität … um die Herzen und Köpfe der Menschen zu gewinnen.“ (V. K. Singh)
Trotz der angespannten Sicherheitslage und wiederholter Wahlboykottaufrufe durch Gruppen wie die Hurriyat-Konferenz lag die Wahlbeteiligung bei den Regionalwahlen in Jammu und Kaschmir zwischen dem 25. November und dem 20. Dezember 2014 bei über 65 Prozent – der höchsten seit 1989 und über dem nationalen Durchschnitt.
Die regierende Jammu and Kashmir National Conference (JKNC) erlitt deutliche Verluste. Stärkste Kraft wurde die säkular-autonomistische People’s Democratic Party (PDP), während die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) mit dem neu gewählten Premierminister Narendra Modi zum ersten Mal zweitstärkste Kraft wurde und ihre Sitzzahl im Regionalparlament verdreifachte.
Separatistenführer Syed Ali Shah Geelani erklärte:
„Die Wahlbeteiligung ist kein Referendum über den politischen Status von Jammu und Kaschmir. Die Menschen nehmen nur teil, um ihre alltäglichen Probleme zu lösen, nicht um die indische Herrschaft zu legitimieren.“ (Al Jazeera)
Die ohnehin fragile politische Lage eskalierte im Juli 2016 dramatisch, als der junge Anführer der Hizbul Mujahideen, Burhan Wani, bei einer gezielten Operation durch Sicherheitskräfte getötet wurde.
Wani galt durch seine Social-Media-Präsenz als Symbolfigur eines „neuen“ kaschmirischen Widerstands. Sein Tod löste massive Proteste im gesamten Tal aus.
Laut Amnesty International wurden in den darauffolgenden Monaten über 100 Zivilist:innen durch exzessive Gewalt der indischen Sicherheitskräfte getötet und mehr als 17.000 verletzt. [5]
Besondere internationale Empörung rief der massenhafte Einsatz von Schrotmunition („pellet guns“) hervor, mit der Protestierende gezielt auf Gesicht und Augen geschossen wurden. Human Rights Watch sprach von einer „inakzeptablen und gefährlichen Taktik“, die über 600 dokumentierte Augenverletzungen verursachte und zahlreiche Menschen – darunter Kinder – dauerhaft erblinden ließ.
Pakistans Regierung bezeichnete die Vorfälle gegenüber den Vereinten Nationen als die „erste Massenerblindung der Menschheitsgeschichte“. [6]
Die indische Regierung reagierte mit einem weitreichenden Telekommunikations-Blackout. Internet, Mobilfunknetze und Pressezugänge wurden für Wochen gesperrt.
Human Rights Watch bezeichnete diese Maßnahmen als „drakonisch, autoritär und einen Versuch, legitimen Protest zu unterdrücken“. [7] Amnesty International kritisierte die wiederholte Einschränkung der Kommunikationsfreiheit als klaren Bruch internationaler Menschenrechtsstandards.
Am 18. September 2016 verschärfte sich die Lage weiter, als vier Angreifer der pakistanisch-basierten Gruppe Jaish-e-Mohammed einen indischen Militärstützpunkt in Uri attackierten und 19 Soldaten töteten.
Die indische Regierung machte Pakistan verantwortlich und kündigte diplomatische sowie wirtschaftliche Maßnahmen an – darunter die Absage des geplanten SAARC-Gipfels, den Boykott russisch-pakistanischer Militärübungen sowie ein medienwirksames Embargo durch die indische Filmindustrie. Pakistan wies alle Vorwürfe zurück und verwies seinerseits auf anhaltende Menschenrechtsverletzungen durch indische Sicherheitskräfte in Kaschmir.
Zwischen 2010 und 2018 intensivierte sich die Repression gegen die kaschmirische Zivilbevölkerung erheblich. Amnesty International kritisierte insbesondere den systematischen Missbrauch des Public Safety Act (PSA), der Inhaftierungen ohne Anklage oder Gerichtsverfahren für bis zu zwei Jahre erlaubt.
Zwischen 2012 und 2018 wurden mindestens 210 dokumentierte Fälle willkürlicher Inhaftierungen registriert, darunter auch zahlreiche Minderjährige – wie etwa der 16-jährige Murtaza Manzoor, der 2011 ohne Verfahren monatelang inhaftiert wurde.
Kommunikationssperren, wie der umfassende Blackout nach dem Tod Burhan Wanis, wurden gezielt eingesetzt, um Proteste zu isolieren und internationale Aufmerksamkeit zu verhindern. Sie verletzten laut Amnesty das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit und seien Ausdruck einer repressiven Politik gegenüber der kaschmirischen Bevölkerung.
Folter als Strategie
Das Deutsche Institut für Internationale Politik und Sicherheit sieht die Ursachen für die zunehmende Radikalisierung kaschmirischer Jugendlicher in der „unzureichenden Autonomie des Bundesstaats, fehlender wirtschaftlicher Perspektiven und Übergriffen der Sicherheitskräfte, die in Kaschmir Sondervollmachten bei der Terrorbekämpfung haben.“ [8]
Im Jahr 2019 veröffentlichten die Jammu Kashmir Coalition of Civil Society (JKCCS) und die Association of Parents of Disappeared Persons (APDP) den Bericht Torture: Indian State’s Instrument of Control in Indian administered Jammu and Kashmir. Zum ersten Mal wurde darin systematisch die Anwendung von Folter durch die indische Zentralregierung in der Region dokumentiert.
Basierend auf 432 Fallstudien analysiert der Bericht die Methoden, Mechanismen und politischen Hintergründe dieser Folterpraxis:
„In 326 der Fälle wurden die Opfer geschlagen, in 231 Fällen mit Elektroschocks gefoltert. Über hundert Betroffene wurden nackt ausgezogen, mit der sogenannten „Rollerbehandlung“ misshandelt (bei der mit einer schweren Walze Druck auf die Beine ausgeübt wird), in Stresspositionen fixiert oder kopfüber aufgehängt.
Vergewaltigung wird regelmäßig als Foltermethode eingesetzt – sowohl gegen Männer als auch gegen Frauen. (…)
In 252 Fällen wurde den Opfern wiederholt Folter zugefügt.“
Von den dokumentierten 432 Fällen betrafen unverhältnismäßige 301 Zivilist:innen – darunter 20 politische Aktivist:innen, 2 Menschenrechtsverteidiger:innen, 3 Journalist:innen, 6 Studierende und 12 Personen mit Verbindung zur Jamaat-e-Islami, einer politisch-religiösen Organisation.
Die überwiegende Mehrheit – 258 Personen – war laut Bericht in keinerlei politische, militante oder zivilgesellschaftliche Aktivitäten eingebunden.
Nur fünf der dokumentierten Opfer waren ehemalige Militante, die nachweislich ihre Beteiligung am bewaffneten Widerstand längst beendet hatten.
Der Bericht kommt zu einer zentralen Schlussfolgerung:
„Die Folter dient nicht der Informationsgewinnung. Sie dient dazu, ein Volk zu unterwerfen, seinen Willen zu brechen, es gegen seinen Willen festzuhalten. (…) Folter ist in diesem Kontext eine Form der kollektiven Bestrafung, die einem ganzen Volk auferlegt wird.“ [9]
[1] https://www.jstor.org/stable/26695737
[2] https://www.amnesty.org/fr/wp-content/uploads/2021/06/asa200282013en.pdf
[3] https://www.amnesty.org/fr/wp-content/uploads/2021/06/asa200282013en.pdf
[4] https://www.ndtv.com/india-news/full-transcript-omar-abdullah-to-ndtv-on-the-controversy-over-afspa-565965
[5] https://time.com/5386056/pellet-gun-victims-kashmir/
[6] https://Kaschmirlife.net/pellet-blinds-in-Kaschmir-first-mass-blinding-in-human-history-says-pakistan-at-un-152923/
[7] https://www.hrw.org/news/2020/09/04/india-stop-using-pellet-firing-shotguns-kashmir
[8] https://www.swp-berlin.org/10.18449/2019A45/
[9] https://www.cpiml.net/liberation/2019/05/institutionalised-brutality-torture-in-jammu-and-Kaschmir (Übersetzt von Kritikpunkt)