Teil 6: Hindutva und Modi

Teil 6: Hindutva und Modi (2019 bis heute)

Premierminister und Hindunationalist Narenda Modi nach seiner Wiederwahl 2024.

Der Artikel 370 der indischen Verfassung, der Jammu und Kaschmir de-jure innenpolitische Autonomie gewähren sollte, bestand seit der fragwürdigen Integration Kaschmirs zu Indien im Jahr 1947. Allerdings wurde diese Autonomie faktisch bereits mit dem Sturz des kaschmirischen Führers Sheikh Abdullah im Jahr 1953 infrage gestellt, als der Marionetten-Minister Bakshi Ghulam Mohammad die Autonomie Kaschmirs de facto Neu-Delhi unterordnete.

„Bakshi Ghulam Mohammed arbeitete daran, die ‚Integration‘ von Jammu und Kaschmir (IJK) nach den Bedingungen Neu Delhis zu ermöglichen. Das Ergebnis war zweifach: eine Zerschlagung der Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Institutionen in Kaschmir sowie eine Erosion der Autonomie von Kaschmir, die (wie es Artikel 370 erfordert) mit der ‚Zustimmung‘ der Jammu und Kaschmir-Regierung erreicht wurde – einer zusammengewürfelten Clique von Klientenpolitikern Neu Delhis“ (A.G. Noorani).

Nach Bakhsis Amtszeit wurden bis 1994 insgesamt 47 präsidentielle Anordnungen erlassen, durch die die formelle Sonderrolle Kaschmirs de facto ausgesetzt wurde. Darunter war Artikel 249 (1960), der es der indischen Zentralregierung ermöglichte, Gesetze für Kaschmir zu erlassen, sowie Artikel 312 (1958), der den Einsatz indischer Sicherheitskräfte in Kaschmir erlaubte.

Nichtsdestotrotz existierte dieser Sonderstatus auf Papier weiterhin und ermöglichte Jammu und Kaschmir formal gewisse Sonderrechte, die anderen indischen Bundesstaaten nicht zustanden. Das bedeutendste dieser Rechte war die spezielle Staatsbürgerschaftsregelung, die es nur sogenannten „permanente Einwohnern“ ermöglichte – Personen, die nachweislich vor dem 14. Mai 1954 entweder selbst oder durch familiäre Abstammung dauerhaft in der Region lebten und dort Eigentum besaßen. Diese Regelung gab den „permanenten Einwohnern“ das Recht, Land in Jammu und Kaschmir zu besitzen, an Wahlen teilzunehmen, in den Staatsdienst einzutreten oder staatliche Bildungsangebote zu nutzen.

Die Regelung der „permanenten Einwohner“ ging auf Maharadscha Hari Singh zurück, der mit ihr einen Kompromiss zwischen der indischen Zentralregierung und der nach Autonomie strebenden kaschmirischen Bevölkerung erreichen wollte.

Unmittelbar nach der Aufhebung von Artikel 370 und der Unterteilung der Region in die Unionsterritorien Jammu und Kaschmir sowie Ladakh im August 2019 verhängte Indien eine monatelange Kommunikationssperre, die das Leben der Menschen massiv einschränkte. Infolge dieser Entscheidung folgten zahlreiche Verhaftungen von Politikern, Aktivisten und Jugendlichen, viele davon unter dem umstrittenen „Public Safety Act“.

„Die indische Regierung hatte Artikel 370 ohne die Zustimmung der (ehemaligen) Regierung von Kaschmir aufgehoben, was illegal ist. Es kam zu massiven Protesten, selbst pro-indische Politiker wurden verhaftet. Daraufhin verhängte Indien für über neun Monate eine Kommunikationssperre, was viele Kaschmiris verängstigte – weshalb sie heute ‚braver‘ oder weniger outspoken sind“, erzählt uns eine kaschmirische Genossin.

Modi und Hindutva

Im Mai 2019 wurde die BJP unter Narendra Modi zum zweiten Mal in Folge stärkste Kraft Indiens, mit einem Zugewinn von 6,5% (37,8% der Stimmen). In ihrem Wahlprogramm sprach die BJP explizit davon, dass es in Zukunft möglich sein solle, dass auch Inder aus anderen Landesteilen Land in Kaschmir erwerben und dort arbeiten können: „Die BJP stellte ihren Wahlkampf ganz auf die Person des Premierministers ab. Modi konzentrierte sich weniger auf wirtschaftliche Erfolge, sondern eher auf nationalistische Themen. Nach dem Terroranschlag in Kaschmir und den Luftschlägen gegen Pakistan im Frühjahr 2019 präsentierte sich Modi als starker Führer, der entschlossen gegen Terrorismus vorgeht.“ [3]

Die versprochene Aufhebung des Sonderstatus Kaschmirs wurde dann auch das erste Wahlversprechen, das Modi nach seiner Wiederwahl wahrmachte.

Dabei ist die Politik der indischen Regierung unter Modi keineswegs zufällig oder rein sicherheitspolitisch motiviert – sie steht im Kontext eines ideologischen Projekts, das im Denken der Hindutva-Bewegung wurzelt und das Ziel verfolgt, Indien als durchgängig hinduistisch definierten Nationalstaat neu zu ordnen. Dieses Projekt hat gravierende Konsequenzen für muslimische Bevölkerungsgruppen und Minderheitenregionen wie Kaschmir.

In dieser Ideologie, die vom RSS (Rashtriya Swayamsevak Sangh) und seinen politischen Ablegern wie der BJP vertreten wird, gilt der Hinduismus nicht nur als Mehrheitsreligion, sondern als konstituierendes Element der Nation. Minderheiten wie Muslime, insbesondere jene mit territorialen Sonderrechten oder abweichender historischer Identität wie in Kaschmir, werden als Bedrohung wahrgenommen. Der ideologische Vordenker V.D. Savarkar formulierte bereits 1923, dass „nur jene, die Indien als ihr Vaterland und zugleich als ihr heiliges Land betrachten, wirklich zu Indien gehören“ (Hindutva: Who is a Hindu?). Kaschmir, mit seiner muslimischen Bevölkerungsmehrheit und seiner gewachsenen Autonomie, stellt aus dieser Sicht ein anomales Element dar, das entweder integriert oder marginalisiert werden muss.

„Modi ist die textbook-Definition eines Faschisten – er gehört zu einer ethno-religiösen faschistischen Ideologie (Hindutva), die einen rein hinduistischen Staat fordert. Er hat die säkulare Verfassung untergraben, ohne dass es Konsequenzen hatte, die Repressionen und Misshandlungen nicht nur in Kaschmir, sondern auch in jeder Region, die sich offen gegen ihn stellt, verstärkt. Und das nicht nur gegen Zivilisten, sondern auch gegen Journalisten, Aktivisten, NGOs und Protestbewegungen. Er übt Kontrolle über die Medien aus und verbreitet Propaganda unter der breiten indischen Bevölkerung – er ist nichts weniger als ein Faschist, ich denke, der Begriff ‚Faschist‘ ist sogar zu schwach“, erzählt die Kaschmirerin Fatima W. gegenüber Kritikpunkt.

Zu Modis Amtsantritt befehligte er die Stationierung von 250.000 extra Soldaten in Jammu und Kaschmir.
Mit insgesamt etwa 750.000 stationierten indischen Soldaten und Sicherheitskräften auf 16 Millionen Einwohner ist Kaschmir heute die am höchsten militarisierte Region der Welt – sogar im Vergleich zur andauernden Völkermordregion Gaza.

In einem Bericht aus dem August 2020 schildert ein Korrespondent aus Kaschmir die katastrophalen Folgen des repressiven Ausnahmezustands: „Die wirtschaftliche Aktivität wurde eingestellt, Schüler und Studierende wurden aus Schulen und Hochschulen ausgeschlossen, und die Menschen sind seit einem Jahr in ihren Häusern eingesperrt. Die Situation ist erschreckend. Wirtschaftlich sind die meisten hier vom Tourismus abhängig, aber seit einem Jahr hat kein einziger Tourist diesen Ort besucht. Fahrer sind seit einem Jahr von den Straßen und haben begonnen zu betteln. Journalisten, denen der Zugang zu Ressourcen wie dem Internet und mobilen Diensten verwehrt ist, haben ihre Jobs aufgegeben und begonnen, manuelle Arbeit zu verrichten.“

Auf die Frage, was sich seit 2019 geändert hat, antwortet uns eine kaschmirische Genossin: „Alles; Repression hat die Kaschmiris zu stummen Mäusen gemacht. Schon der kleinste Hinweis auf Loyalität zur Freiheitsbewegung führt zur Verhaftung und zum Verschwindenlassen. Immer mehr Nicht-Kaschmiris ziehen jetzt langsam weg, es werden immer mehr Truppen stationiert, während wir sprechen. Es fühlt sich nicht mehr wie Zuhause an. Es ist ein Gefängnis, in dem man sich nicht äußern kann.“

Pahalgam Anschlag

Am 22. April 2025 eröffneten drei Täter auf den Baisaran-Wiesen, einem beliebten Touristenort, gezielt das Feuer auf die Besucher, wobei sie besonders Männer ins Visier nahmen. Mindestens 26 Menschen, darunter überwiegend indische Touristen sowie je ein Besucher aus den Vereinigten Arabischen Emiraten und Nepal, wurden getötet, und über 20 weitere erlitten Verletzungen. Die „Resistance Front“ (TRF) reklamierte den Anschlag für sich.

Die TRF, eine militante Gruppierung, wurde unmittelbar nach der Aufhebung des Autonomiestatus von Jammu und Kaschmir im Jahr 2019 gegründet. Sie versteht sich als säkulare Widerstandsbewegung gegen die indische Kontrolle, insbesondere gegen die gezielte Ansiedlung von Nicht-Kaschmirern in der mehrheitlich muslimischen Region, die von vielen als Versuch einer demografischen Veränderung und Beginn eines Israel-artigen Siedlerkolonialismus wahrgenommen wird.

Die TRF wird von indischen Behörden als Ableger der pakistanischen Terrororganisation Lashkar-e-Taiba eingestuft und als terroristische Vereinigung betrachtet:

„Indische Beamte haben immer wieder betont, dass die TRF in Wirklichkeit ein Ableger – oder nur eine Tarnorganisation – der in Pakistan ansässigen bewaffneten Gruppe Lashkar-e-Taiba ist. Indien behauptet, Pakistan unterstütze den bewaffneten Aufstand in Kaschmir, eine Anschuldigung, die von Islamabad bestritten wird. Pakistan sagt, es leiste nur diplomatische und moralische Unterstützung für das kaschmirische Volk. Es verurteilte auch den Angriff auf Touristen in Pahalgam.“[5]

In einem drei Tage nach dem Anschlag veröffentlichtem Schreiben der TRF leugnen sie jedoch jede Beteiligung am Anschlag in Pahalgam:
„Die Resistance Front (TRF) bestreitet eindeutig jegliche Beteiligung am Vorfall in Pahalgam. Jede Zuschreibung dieser Tat an die TRF ist falsch, voreilig und Teil einer orchestrierten Kampagne, um den kaschmirischen Widerstand zu verleumden.“
Ihr ursprüngliches Bekennerschreiben, so behauptet die TRF zu vermuten , sei möglicherweise „das Ergebnis eines koordinierten Cyberangriffs“:
„Wir führen eine umfassende Untersuchung durch, um den Sicherheitsbruch nachzuvollziehen, und erste Hinweise deuten auf die Fingerabdrücke indischer Cyber-Intelligenz-Operativen hin.
Dies ist nicht das erste Mal, dass Indien Chaos für politische Zwecke inszeniert.“

Nach Befragung mehrerer Kaschmirer und solcher mit Verbindungen zu den Widerstandsbewegungen schildern uns mehrere, der Angriff sei ‚ein Setup‘ zum Zweck der Delegitimierung des kaschmirischen Widerstands und zur Legitimierung eines Krieges gegen Pakistan.

Nach dem Anschlag riegelten Polizei und Militär das Gebiet ab und begannen eine großangelegte Fahndung nach den Tätern.
Innerhalb der ersten zwei Tage wurden rund 1.500 Menschen festgenommen, zahlreiche Razzien durchgeführt und neue Kontrollpunkte eingerichtet, um weitere Angriffe zu verhindern. Die indische Regierung reagierte mit drastischen politischen Maßnahmen, darunter die Ausweisung aller pakistanischen Staatsangehörigen bis zum 29. April, die Aussetzung des Indus-Wasservertrags und die Schließung wichtiger Landgrenzen zu Pakistan. Pakistan reagierte umgehend mit der Ausweisung indischer Bürger, der Schließung des Luftraums für indische Fluggesellschaften und der Aussetzung des Handels.

Es folgt die rasche Verschärfung der Sicherheitslage, Massenfestnahmen und die Ausweisung pakistanischer Staatsbürger.
Die Suspendierung des Indus-Wasserabkommens zwischen Pakistan und Indien sowie die Grenzschließungen stellen außenpolitische Eskalationsschritte dar, die in erster Linie die Zivilbevölkerung belasten und das Risiko einer weiteren Destabilisierung der Region erhöhen.

Wissenschaftliche Analysen verdeutlichen, dass Indien die Kaschmir-Frage zunehmend als innenpolitisches Instrument nutzt, insbesondere im Kontext des wachsenden Hindunationalismus, der u.a. auf der Ausgrenzung und Repression gegen die Bevölkerung Kaschmirs basiert.

Indien betrachtet die Region als integralen Bestandteil des eigenen Staatsgebiets und lehnt internationale Vermittlung ab. Diese Haltung, kombiniert mit einer massiven Militärpräsenz und restriktiven Maßnahmen nach innen, verstärkt die Entfremdung der lokalen Bevölkerung und erhöht das Eskalationspotenzial zwischen den beiden Atommächten erheblich

Der Anschlag, inszeniert oder nicht, hatte somit für die Legitimation für den Beginn der endgültigen Unterwerfung und Ausgrenzung der Menschen Kaschmirs.

Ein Ende

Der kaschmirische Aktivist und Widerstandskämpfer Hamid Bashani, der im Frühjahr 2025 an Krebs verstarb, beschrieb eine nachhaltige Lösung für die Kaschmir-Frage wie folgt:

Was der Selbstbestimmung der Menschen Kaschmirs im Weg steht, ist nicht mehr als das geopolitische Machtspiel um die Region:

Gestern Abend, den 06. Mai 2025, hat Indien im Sinne eines Racheschlags bzgl. dem Anschlag in Pahalgam vermeintliche „terroristische Infrastruktur“ im pakistanischen Kaschmir angegriffen – diese Infrastrukturen existieren allein wegen der Besetzung und Repression gegen die Menschen Kaschmirs, aus der sich Indien wie Pakistan jeweils eigene geo- und Innenpolitische Vorteile schaffen können.
Teile der Familie von Fatima W., die uns im Laufe dieser Ausarbeitung geholfen haben, wurden hierbei verletzt und befinden sich derzeit im Krankenhaus.

Die Radikalisierung vieler kaschmirischer Jugendlicher ist hierbei, wie in Gaza, Folge der systematischen Bekämpfung aller nicht-Militanten Alternativen.
Ein Leben in Kaschmir bedeutet ein Leben ohne Selbstbestimmung, in Armut und ohne Perspektive; was daraus folgt, ist der Hang zur Veränderung der bestehenden Verhältnisse – durch die indische Untergrabung der säkularen und politischen Opposition, bleibt die radikal-islamistische Alternative bestehen.
Hindutva folgt dem selben Prinzip; die ungleiche Entwicklung Indiens und die Entwicklung drastischer Widersprüche zwischen den Bundesstaates verholfen der BJP gerade im armen, strukturell benachteiligten Hindu-Gürtel, Uttar Pradesh und Bihar früh zu massiven Erfolgen – der Hindunationalismus, wie jeder andere Ethno-Nationalismus, ist Folge der ungleichen Entwicklung, die in kapitalistischen Produktionsverhältnissen nicht zu überwinden ist.

So haben sich auch vermeintliche Oppositionsparteien, wie die Kommunistische Partei Indiens (Marxist), längst soweit den Interessen des indischen Staates untergeordnet, dass sie sich vollkommen dem völkermördischen Nationalismus gegen die Menschen in Kaschmir einordnen.
Zu den Racheschlägen gegen Pakistan, d.h. direkten Kampfhandlungen zwischen zwei Atomschlägen, schreibt sie:
„Neben diesen Maßnahmen sollte der Druck auf Pakistan aufrechterhalten werden, damit es diejenigen ausliefert, die für das Massaker an unschuldigen Menschen in Pahalgam verantwortlich sind, und sicherstellt, dass von seinem Staatsgebiet aus keine Terrorcamps betrieben werden. Die indische Regierung sollte gewährleisten, dass die Einheit des Volkes und die Integrität des Landes gewahrt bleiben“

Ein Ende dieses Konflikts zwischen zwei Atommächten funktioniert nur durch die Selbstbestimmung der Menschen Kaschmirs.


[1] Sumantra Bose, Kashmir: Roots of Conflict, Paths to Peace (S. 68, übersetzt von Kritikpunkt)

[2] https://www.iaaw.hu-berlin.de/de/region/suedasien/seminar/publikationen/sachronik/04-focus-slathia-marvi-a-history-of-special-status.pdf

[3] https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2019A33_wgn.pdf

[4] https://marxist.com/one-year-after-modi-s-draconian-measures-imposed-on-Kaschmir.htm (Übersetzt von Kritikpunkt)

[5] https://www.aljazeera.com/news/2025/4/23/what-is-the-resistance-front-the-group-behind-the-deadly-Kaschmir-attack

[6] https://www.marxists.org/history/etol/newspape/atc/707.html

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Mahavirsinh Parmar

All 6 parts are a good read. Thanks for making the picture clear.

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