Warum Marxisten Foucault brauchen
Warum Marxisten Foucault brauchen:
Oder: Wie ich lernte, mir keine Sorgen mehr über den Postmodernismus zu machen und das „Spiel der Wahrheit“ zu lieben.
The original English post can be found here – this version has been translated into German by us.
Dies ist ein exklusiver Gastbeitrag von Julian R. Vale.
Klicke auf die Fußnoten für verschiedene Erklärungen und Klarstellungen.
Einige klassische Marxisten haben viel Tinte vergossen, um über die Zersplitterung der einstigen proletarischen[1] Solidarität in die heute nahezu unzähligen „Identitätspolitiken“ zu klagen. Das heißt, wir verbringen unsere Zeit mit individualisiertem, intersektionalem[2] Aktivismus in Bezug auf Geschlecht, Herkunft, Sexualität, Ethnie, Religion und so weiter und sind dadurch uneinig und unfähig, kohärent für kollektive Befreiung und Emanzipation von unseren verschiedenen Unterdrückern zu kämpfen (Harcourt 328). Für den orthodoxen Marxisten ist der mächtigste Unterdrücker die kapitalistische Klasse der Milliardäre und Millionäre, die die zahlenmäßig größte Gruppe – die arbeitenden Menschen – unterwirft (Callinicos, Kouvelakis und Pradella 3–5). Marxistische Autoren bestehen manchmal sogar darauf, dass die angebliche Ursache der Spaltung aus der sogenannten „postmodernen“[3] Bewegung stammt (Callinicos et al. 346). So warf Jean-Paul Sartre Michel Foucault die Hauptschuld an der Spaltung der Linken vor und nannte ihn sogar „die letzte Barrikade, die das Bürgertum noch gegen Marx errichten kann“ (Kippes).
Obwohl an diesem antifoucauldischen Argument ein Körnchen Wahrheit liegt, müssen Erben der foucauldischen Tradition in der „postmodernen“ Linken die Klassenpolitik als Grundlage von Organisation und letztendlicher Befreiung[4] nicht ablehnen. Vielmehr bieten die konzeptuellen Neuerungen des Franzosen Marxisten und Post-Marxisten auf der Linken mächtige Werkzeuge, um das Klassenbewusstsein[5] zu stärken und vielleicht sogar die unwahrscheinlichsten Reaktionäre und Konservative für den sozialistischen Kampf zu gewinnen.
Diese letzten beiden Punkte, der erste in Bezug auf Foucauldianer und der zweite auf die marxistische Linke, wurden von Robert Kippes in ‚Why the Left Needs Foucault‘ gemacht. In diesem Artikel werde ich Kippes’ Argument weiterentwickeln. Meine Hauptthese ist, dass Foucaults Unterscheidung zwischen ‚Spielen der Wahrheit‘ und ‚Regimen der Wahrheit‘ Marxisten dabei hilft zu verstehen, was getan werden muss, um linksgerichtete Liberale und sogar Konservative davon zu überzeugen, den marxistischen revolutionären Kampf aufzunehmen. Mein Argument ist nicht, dass Marxisten (oder ehrlich gesagt, irgendjemand mit grundlagenorientierten Überzeugungen) den foucauldischen Antifundationalismus vorbehaltlos übernehmen sollten, noch dass die beiden Theorien vollständig kompatibel seien. Vielmehr behaupte ich, dass Marxisten Foucaults Konzepte taktisch aneignen können. Wenn es mir gelingt, diese These zu untermauern, wird der Leser davon überzeugt sein, dass Foucault kein notwendiger Feind der Marxisten ist und dass Klassenbewusstsein auch in der heutigen fragmentierten Situation möglich sein kann.
Foucaults Ablehnung der Ideologie und die Macht der Wahrheit
Foucault äußerte stets Skepsis gegenüber dem Begriff der Ideologie, insbesondere wie er im althusserianischen Marxismus entwickelt wurde (On the Government of the Living 76). Für Foucault war nicht Irrtum, Illusion oder entfremdetes Bewusstsein die zentrale philosophische Frage, sondern die Wahrheit selbst (Truth and Power 75). Er wollte verstehen, wie bestimmte Aussagen als wahr akzeptiert werden und welche Mechanismen diesem Prozess zugrunde liegen (Oksala 120). Dies führte ihn zur Analyse der historischen Entstehung spezifischer Formen von Wissen, Macht und Subjektivität, die er als untrennbar miteinander verbunden ansah (Harcourt 93). Dabei ließ er sich selektiv von Nietzsche inspirieren, der erklärte:
„Ich bin kein Mensch; ich bin Dynamit!“ – ein Bild, das andeutet, dass Nietzsche durch das Überwinden asketischer Ideale sich selbst zerstörte. Trotz dieses Einflusses und seines Interesses am Selbstüberwindung bevorzugte Foucault für seine eigene Arbeit die weniger explosive Metapher des Werkzeugkastens. Er lud seine Leser ein – denn um ihn zu nutzen, müssen wir ihn lesen – das aufzunehmen, was brauchbar ist, und den Rest zu ignorieren oder abzulegen (Gutting 378).
In seinen späteren Werken führte Foucault explizit die Unterscheidung zwischen „Spielen der Wahrheit“ und „Regimen der Wahrheit“ ein (Lorenzini 33–37). Ein Spiel der Wahrheit bezeichnet die Regeln und Verfahren, die die Produktion von wahren und falschen Aussagen innerhalb eines bestimmten Bereichs steuern. Dies betrifft die epistemische Akzeptanz von Wahrheit; die interne Logik und formale Struktur, die autonom die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Aussagen herstellt. Beispielsweise bilden die Regeln der wissenschaftlichen Methodologie oder die formale Logik ein Spiel der Wahrheit.
Ein Regime der Wahrheit ist hingegen etwas anderes. Es bestimmt die Pflichten der Individuen in Bezug auf die Verfahren, durch die Wahrheit manifestiert wird. Während sich das Spiel auf die epistemische Akzeptanz bezieht, betrifft das Regime die praktische Unterwerfung unter die Wahrheit. Es offenbart die komplexe Wechselwirkung von Wahrheit und Macht innerhalb der Verfahren, mit denen Menschen regiert werden. Foucaults zentrale Erkenntnis hierbei ist das „deshalb“, das das „es ist wahr“ (festgelegt durch das Spiel der Wahrheit) mit dem „ich unterwerfe mich“ (der praktischen Unterwerfung des Individuums) verbindet. Diese Verbindung ist nicht notwendig, sondern historisch, kulturell und ethisch-politisch bedingt. Regime der Wahrheit sind Apparate, die das Wahre vom Falschen trennen und sozialen, politischen und wirtschaftlichen Systemen sowie Lebensweisen Legitimität verleihen. Sie sind „an Subjektivität gebunden“, was bedeutet, dass sie vom Individuum nicht nur Gehorsam verlangen, sondern dass es die Wahrheit in einer Weise manifestieren und sich ihr unterwerfen muss, die seine Identität konstituiert (Lorenzini 31).
Um ganz klar zu sein: Ein strenger Foucauldianer kann die klassische marxistische Vorstellung eines vorgefassten revolutionären Subjekts – nämlich des Proletariats – als privilegierten Träger historischer Wahrheit nicht akzeptieren. Für Foucault ist das Subjekt nicht der Ausgangspunkt der Kritik, sondern deren Produkt („Nachwort: Das Subjekt und die Macht“ 210). Klassenbewusstsein wird demnach nicht entdeckt, sondern konstruiert. Es wird auch nicht enthüllt, sondern durch die Umgestaltung von Regimen der Wahrheit geschmiedet. Zwischen Foucault und dem Marxismus bestehen grundlegende Unvereinbarkeiten, doch mein Punkt ist, dass diese Spannung für Marxisten produktiv sein kann. Warum?
Unabhängig davon, ob man ein transzendentes revolutionäres Subjekt ablehnt oder akzeptiert, erfordert das marxistische Ziel, kollektives Klassenbewusstsein aufzubauen, die Überzeugung von Individuen aus verschiedenen sozialen Lagen, dass ihre Interessen mit dem revolutionären Kampf gegen das Kapital übereinstimmen. Mein Argument ist, dass dies mehr bedeutet, als nur ökonomische Fakten zu präsentieren oder die „Falschheit“ ihrer aktuellen Überzeugungen zu beweisen. Foucaults Analyse legt nahe, dass Menschen nicht einfach durch falsche Ideen getäuscht werden; sie werden als Subjekte konstituiert, die innerhalb spezifischer Regime der Wahrheit agieren, welche ihr Verständnis von Realität, sich selbst und ihren Verpflichtungen prägen.
Ein Beispiel: Ein liberaler Unterstützer der US-Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris könnte einem Regime der Wahrheit verpflichtet sein, das institutionelle Reformen, Respekt für die verfassungsmäßige Demokratie und intersektionale Repräsentation als Mittel zur Gerechtigkeit priorisiert. Ihr „deshalb unterwerfe ich mich“ könnte so formuliert sein: „Weil bedeutender Wandel durch demokratische Prozesse und inklusive Führung erfolgt, unterstütze ich reformorientierte Kandidaten innerhalb des Systems.“ Dieser Glaube fußt oft auf einem echten moralischen Verantwortungsbewusstsein und historischem Bewusstsein – insbesondere auf der Erkenntnis, dass mehr Repräsentation von Frauen und People of Color in Führungspositionen echten Fortschritt gegen langjährige Ausgrenzung und Marginalisierung bedeutet.
Ein marxistischer Organisator, der von Foucaults Werkzeugen geleitet wird, würde den Wert der Repräsentation respektieren, aber die Diskussion vertiefen, indem er fragt: Welche Strukturen prägen weiterhin die Ergebnisse für marginalisierte Gemeinschaften, selbst wenn politische Ämter von Mitgliedern dieser Gemeinschaften besetzt werden? Dabei wird die Bedeutung von Harris’ Aufstieg zu einem hohen Amt nicht geleugnet, aber es wird hinterfragt, ob Repräsentation allein für materielle Veränderungen ausreicht. Der Fokus liegt darauf, die Annahme sanft zu entnaturalisiseren, dass institutionelle Inklusion notwendigerweise strukturellen Wandel bedeutet. So könnte der Organisator untersuchen, wie bestimmte institutionelle Rollen – etwa die eines Bezirksstaatsanwalts oder Vizepräsidenten – individuelle Handlungsspielräume einschränken und breitere Machtstrukturen reproduzieren, unabhängig davon, wer die Position innehat. Es geht nicht darum, Harris persönlich anzugreifen, sondern aufzuzeigen, wie Regime der Wahrheit in der liberalen Demokratie moralische Legitimität an prozedurale Beteiligung knüpfen und dabei oft tiefere Kontinuitäten in wirtschaftlicher und sozialer Macht verschleiern. Ziel dieses Ansatzes ist es, eine umfassendere Vorstellung von Gerechtigkeit zu fördern – eine, die die Bedeutung von Repräsentation anerkennt, zugleich aber auch die Funktionsweise von Machtstrukturen dahinter infrage stellt.
Ein Trump-Anhänger könnte sich in einem Regime der Wahrheit befinden, das persönliche Verantwortung, nationale Souveränität, kulturelle Tradition und wirtschaftliche Freiheit betont. Ihr „deshalb unterwerfe ich mich“ könnte lauten: „Weil harte Arbeit belohnt werden sollte und die Regierung sich nicht einmischen darf, unterstütze ich Trumps Verteidigung des freien Marktes und starker Grenzen.“ Hier wird die politische Unterwerfung mit dem Glauben an robusten Individualismus und Misstrauen gegenüber dem „großen Staat“ verknüpft, eingebettet in Erzählungen von Verlust – von Arbeitsplätzen, Identität und Kontrolle.
Der Marxist, der mit Foucaults Konzepten arbeitet, würde nicht damit beginnen, diese Person als ignorant oder rassistisch zu brandmarken, sondern die historische Konstruktion dieser Werte untersuchen. Ein Organisator könnte den Einzelnen dazu einladen, über seine erlebten wirtschaftlichen Ängste nachzudenken – stagnierende Löhne, prekäre Arbeitsplätze oder die Opioid-Krise in der eigenen Gemeinschaft. Es ließe sich nachzeichnen, dass diese Probleme nicht durch Einwanderer oder Regulierungen an sich verursacht werden, sondern durch Auslagerung von Arbeitsplätzen, deregulierte Arbeitsmärkte und eine politische Klasse, die die arbeitende Bevölkerung im Stich gelassen hat.
Zum Beispiel kann der Wert der „persönlichen Verantwortung“ als Regime der Subjektivität untersucht werden: Wer profitiert davon, dass Arbeiter glauben, ihr Leid sei ein persönliches Versagen und keine systemische Bedingung? Gespräche könnten die Idee einführen, dass sowohl liberale als auch konservative Eliten ein Wahrheitsregime stärken, das Ausbeutung unter dem Deckmantel der Freiheit verschleiert. Indem man ihre Wut mit struktureller Analyse verbindet und zeigt, wie die herrschende Klasse kulturelle Werte manipuliert hat, ist das Ziel nicht, ihre Überzeugungen zu verdrängen, sondern ihre Kritik umzulenken – von Sündenböcken hin zu Systemen.
Diese Entnaturalierung könnte mit der Vorstellung von gemeinschaftlicher Solidarität einhergehen – etwa Gewerkschaften oder gegenseitigen Hilfsprojekten –, die Kooperation statt Konkurrenz als Quelle von Würde zeigen. Es geht darum, eine Öffnung zu schaffen. Überzeugt es dich wirklich, wenn man dir als privilegiertem heterosexuellen weißen Mann Vorträge hält, den Befreiungskampf aufzunehmen? Oder wenn man dir erzählt, dass du deinen Job an einen KI-Bot verloren hast? Was, wenn das „America First“, das sie wollen, tatsächlich eine Konzern-first-Politik ist? Was, wenn der Schutz deiner Familie nicht Grenzmauern erfordert, sondern das Brechen der Macht von Immobilienkonzernen und ausbeuterischen Arbeitgebern? Mein Punkt ist, dass Foucaults Unterscheidung zwischen Spielen der Wahrheit und Regimen der Wahrheit uns ermöglicht, solche Fragen und Probleme für Trump-Anhänger oder amerikanische Demokraten klarer zu erkennen.
Foucault und die Möglichkeit von Klassenbewusstsein
Foucaults Fokus auf Subjektivität und diffuse Macht wird oft so gesehen, dass er zu fragmentierten Kämpfen führt, was das marxistische Projekt eines einheitlichen Klassenkampfs untergraben könnte. Kritiker befürchten, dass sein Anti-Foundationalismus keine Basis für ein gemeinsames emanzipatorisches Ziel lässt. Dennoch möchte ich eine andere Perspektive anbieten.
Erstens negiert Foucaults Analyse die Klassenpolitik nicht, sondern ergänzt sie. Der antikapitalistische Kampf kann als transversal zu diversen sozialen Konflikten verstanden werden, die von antirassistischen, antisexistischen und anderen Kämpfen überformt sind. Klassenbewusstsein aufzubauen heißt in diesem Kontext nicht, diese vielfältigen Kämpfe unter einer einzigen Klassenidentität zusammenzufassen, sondern eine antikapitalistische Perspektive in jeden Konflikt hineinzutragen. Dazu gehört das Verständnis der „Regime der Wahrheit“, die in diesen unterschiedlichen Kampfgebieten wirken.
Zweitens zeigt Foucaults Genealogie[6], obwohl sie Brüche und Differenzen betont, auch eine Geschichte von Widerstand und Gegenverhalten (Lorenzini 105). Indem sie aufzeigt, wie Menschen in der Vergangenheit gegen Regierungsmechanismen und Wahrheitsregime kämpften, offenbart die Genealogie eine Vielzahl von Widerstandsmöglichkeiten, die „normativ bedeutsam“ sind, weil sie die Möglichkeit verkörpern, anders zu sein, zu handeln und zu denken. Dies schafft ein „transhistorisches, offenes und mobiles ‚Wir‘“, das einen Rahmen für kollektive soziale Experimente und politische Transformation bildet (Lorenzini 124). Dieses „Wir“ ist kein einheitliches, vorbestehendes Klassensubjekt, sondern entsteht durch gemeinsame Erfahrungen von Unterwerfung und Widerstand in unterschiedlichen Kontexten und historischen Perioden.
Daher erlaubt Foucaults Konzept Marxist:innen, die Aufgabe des kollektiven Bewusstseinsaufbaus nicht als das Erwachen eines schlafenden Riesen mit der „Wahrheit“ zu begreifen, sondern als das Fördern von Verbindungen zwischen verschiedenen Individuen, indem man ihnen hilft, das „deshalb“ zu hinterfragen, das sie an ihre aktuellen Subjektpositionen[7] und Wahrheitsregime bindet. Dieser Prozess der Entnaturalierung, der durch genealogische Analyse ermöglicht wird, öffnet die Möglichkeit, gemeinsame Erfahrungen der Herrschaft durch arbiträre (nicht notwendige) Verknüpfungen von Wahrheit und Unterwerfung zu erkennen und so Solidarität und kollektives Handeln zu ermöglichen. Die „Politik unseres Selbst“ beinhaltet das Verständnis, wie wir durch Macht konstituiert sind und zur Selbstveränderung fähig sind (Allen 174-175). Foucaults Analyse stellt Werkzeuge bereit, um beide Seiten dieser Gleichung zu bearbeiten.
Einwände bedenken
Ein wesentlicher Einwand gegen dieses Argument ist die vermeintliche grundsätzliche Unvereinbarkeit zwischen Foucault und dem Marxismus. Kritikerinnen und Kritiker argumentieren, dass Foucaults Ablehnung einer universellen, fundamentalen Wahrheit und sein Fokus auf diffuse Macht im Widerspruch zu marxistischen Konzepten wie dem historischen Materialismus, der Zentralität des Klassenkampfs und der Idee steht, objektive wirtschaftliche Wahrheiten aufzudecken. So etwa Steven Lukes, der behauptet, Foucaults Rahmenwerk von Wissen-Macht und Wahrheitsregimen verhindere die Enthüllung fehlerhafter Ideologien und die Analyse der „wirklichen Interessen“ der Menschen, anders als das Konzept des falschen Bewusstseins. Für Foucault gebe es keine Befreiung von Macht und keinen Maßstab, um zwischen Lebensweisen zu urteilen (Harcourt 171).
Ein zweiter Einwand könnte die praktische Wirksamkeit dieses foucaultschen Ansatzes für politische Überzeugungsarbeit infrage stellen. Das Verstehen des „Regimes der Wahrheit“ einer Person erscheine eher als intellektuelle Übung. Wie lässt sich die Analyse des „deshalb ich unterwerfe mich“ tatsächlich in konkretes politisches Handeln und Einheit übersetzen, gerade wenn tief verwurzelte Überzeugungen und Interessen im Spiel sind? Kritiker wie N. Hartsock werfen Foucault vor, keine konkreten Beispiele dafür zu liefern, wie Widerstand in der Praxis aussieht (Hartsock 157). Auch Laclau, der sich mit von Foucault beeinflusster Theorie beschäftigt, ringt mit der Spannung zwischen diversen Partikularismen und der Notwendigkeit eines universellen Diskurses und kollektiver Fronten (Laclau und Mouffe 167).
Einwände adressieren
Foucaults Ablehnung einer einzigen, objektiven Wahrheit bedeutet nicht zwangsläufig, dass es gar keine Wahrheit gibt, sondern vielmehr, dass Wahrheit innerhalb bestimmter Praktiken und Machtverhältnisse produziert und umkämpft wird (Reply to the Circle of Epistemology 9-40 und Lorenzini 42-43). Foucault selbst widersprach der Auffassung, seine Arbeit reduziere Wissen auf Macht oder negiere die Möglichkeit eines Subjekts. ‚Diese Art von Forschung als Versuch darzustellen, Wissen (savoir) auf Macht zu reduzieren, als Maske von Macht und Strukturen, in der kein Raum für ein Subjekt ist, ist schlichtweg eine Karikatur‘ (The Courage of Truth 9). Ebenso zielt sein Fokus auf Wahrheitsregime darauf ab, die Verpflichtungen der Individuen gegenüber der Wahrheit zu hinterfragen, nicht die Wahrheit selbst zu verwerfen.
Darüber hinaus ist Foucaults Kritik der Ideologie nicht die Behauptung, dass alle Überzeugungen gleichermaßen gültig seien oder Macht einfach bestimme, was wahr ist. Stattdessen stellt er die Idee infrage, dass Kritik auf der Enthüllung einer verborgenen, zugrunde liegenden Wahrheit beruht (Lorenzini 24). Sein genealogischer Ansatz zielt darauf ab, scheinbar offensichtliche Kategorien und Rationalitäten zu entnaturalisieren, indem er ihre historische Kontingenz und wie sie zu Bedingungen der Möglichkeit für unsere Gegenwart wurden, aufzeigt. Diese Entnaturalisierung schafft die Voraussetzung für Kritik. Sie ersetzt nicht die Notwendigkeit, ökonomische Strukturen zu analysieren, sondern bietet einen Weg, zu verstehen, wie diese Strukturen auf Ebene individueller Subjektivierung und kollektiver Praktiken gelebt, reproduziert und potenziell infrage gestellt werden. Die Idee eines transversalen Antikapitalismus erlaubt es, den Fokus auf das Kapital zu bewahren und gleichzeitig verschiedene Kämpfe einzubeziehen, vermittelt durch das Verständnis, wie Subjekte an diesen unterschiedlichen Orten konstituiert werden.
Um den Einwand der praktischen Wirksamkeit zu entkräften, muss das Verständnis von Überzeugung verschoben werden. Sie wird nicht als rein rationale Informationsvermittlung verstanden, sondern als Herausforderung tief verwurzelter Praktiken und Beziehungen, die Subjektivität[8] innerhalb eines Wahrheitsregimes ausmachen. Foucaults Analyse der Parrhesia (Wahrheitssagen) bietet ein Beispiel für eine konkrete Praxis der Kritik als Form des Widerstands (Lorenzini 118). Parrhesia ist eine ethisch-politische Kraft, die in einem perlokutionären Schlachtfeld wirkt, das heißt, ihre Wirkung hängt vom Kontext und der Rezeption ab, nicht nur vom Wahrheitsgehalt. Überzeugung bedeutet in diesem Sinne nicht, Zustimmung zu erzwingen, sondern die Möglichkeit zu schaffen, dass Individuen ihr eigenes ‚deshalb ich unterwerfe mich‘ hinterfragen und sich einer Geschichte des Widerstands anschließen. Während Foucault vielleicht kein Handbuch für Revolution lieferte, zeigt seine Analyse, dass Widerstand in Machtverhältnissen inhärent ist und an verschiedenen Stellen stattfindet, wodurch ein komplexeres Verständnis politischer Veränderung möglich wird als ein einfaches Modell ideologischen Erwachens. Seine Arbeit ermutigt zum Experimentieren mit neuen Denk-, Fühl- und Handlungsweisen.
Gesamtevaluation
Das Argument, dass Foucaults Wahrheitskonzepte Marxisten dabei helfen können, ein kollektives Klassenbewusstsein aufzubauen, weist bedeutende Stärken auf. Es geht über ein potenziell zu simples Modell der „falschen Bewusstseins“ hinaus, indem es die komplexen Weisen anerkennt, in denen Individuen als Subjekte innerhalb spezifischer Wahrheitsregime konstituiert werden. Dadurch wird ein nuancierteres Verständnis dafür ermöglicht, warum verschiedene Gruppen an bestimmten Überzeugungen und Praktiken festhalten, und es werden Wege zur Überzeugung aufgezeigt, die nicht nur den Inhalt von Überzeugungen, sondern vor allem die Mechanismen der Wahrheitsproduktion und Unterwerfung ansprechen. Indem der kontingente Zusammenhang zwischen „es ist wahr“ und „ich unterwerfe mich“ in den Fokus rückt, wird die Möglichkeit von Widerstand und Selbsttransformation als ethisch-politische Akte hervorgehoben, die in der Weigerung wurzeln, auf eine bestimmte Weise beherrscht zu werden. Das Argument interpretiert außerdem Foucaults vermeintliche Zersplitterung der Kämpfe positiv als Ressource für den Aufbau einer transversalen, antikapitalistischen Front über diverse Subjektivitäten hinweg.
Gleichzeitig weist das Argument auch Schwächen auf, die teils aus Foucaults eigenem Werk stammen. Zwar wird eine Methode der Überzeugung vorgeschlagen, doch bleibt das konkrete „Wie“ etwas abstrakt. Die praktische Anwendung der Analyse von „Wahrheitsregimen“ und des „deshalb ich unterwerfe mich“ in der politischen Organisierung erfordert erheblichen Übersetzungs- und Experimentieraufwand. Die Verbindung zwischen dieser mikrosozialen Analyse der Subjektivierung und den makrostrukturellen Dynamiken von Kapitalakkumulation und Klassenstruktur wird zwar als komplementär angedeutet, aber nicht vollständig ausgeführt. Der Einwand, dass Foucault keine klare normative Grundlage für Widerstand liefere, wird dadurch beantwortet, dass Widerstand als immanenter Teil von Machtverhältnissen und einer Geschichte der Gegenführung gefasst wird; dennoch könnte dies für diejenigen, die universelle Rechtfertigungen revolutionären Kampfes suchen, unbefriedigend bleiben. Das „Wir“ der Kritik und Transformation bleibt offen und mobil, was von manchen als mangelnde Einheit und Richtung für eine erfolgreiche Revolution wahrgenommen werden könnte. Das „Wir“ ist zugegeben vage. Die Frage nach einer spezifischen, antigrundlagenkritischen Praxis für Foucauldians behandle ich an anderer Stelle.
Trotz dieser Schwächen bietet der hier entwickelte Dialektik zwischen dem foucaultschen Rahmen und marxistischen Zielen eine reichere Perspektive auf die Herausforderungen und Möglichkeiten zeitgenössischer emanzipatorischer Politik. Die Einwände weisen auf berechtigte Bedenken bezüglich der Kompatibilität und Praktikabilität hin und drängen dazu, zu klären, wie Foucaults Konzepte die marxistische Analyse ergänzen statt ersetzen und die andauernde Herausforderung anzuerkennen, theoretische Erkenntnisse in konkrete kollektive Aktionen zu übersetzen. Die Stärke der foucaultschen Perspektive liegt darin, die subtilen, aber mächtigen Weisen sichtbar zu machen, wie Wahrheit und Macht unser Sein prägen, und neue Hebel für Kritik und Transformation anzubieten, die das Streben nach kollektivem Klassenbewusstsein in unserer fragmentierten Welt potenziell beleben können.
Wenn Marxisten oder ehrlich gesagt auch andere Menschen Herzen ebenso gewinnen wollen wie Köpfe, brauchen sie mehr als nur ökonomische Diagramme – sie brauchen Werkzeuge, um zu verstehen, warum Menschen für Systeme kämpfen, die ihnen angeblich schaden. Foucault kann uns helfen zu sehen, wie Menschen nicht nur beherrscht werden, sondern wie sie frei werden können. Warum? Weil man mit Foucault verstehen kann, wie man selbst und andere zu den Menschen geformt wurden, die sie sind – und nicht nur das, sondern auch, wie man an der eigenen Subjektivierung mitwirkt.
Works Cited:
- Allen, Amy. The Politics of Our Selves: Power, Autonomy, and Gender in Contemporary Critical Theory. New Directions in Critical Theory, Columbia University Press, 2008
- Callinicos, Alex, Stathis Kouvelakis, and Lucia Pradella. Routledge Handbook Of Marxism And Post-Marxism, edited by Alex Callinicos, Stathis Kouvelakis, and Lucia Pradella, Routledge, 2021.
- Crenshaw, Kimberle. „Demarginalizing the Intersection of Race and Sex: A Black Feminist Critique of Antidiscrimination Doctrine, Feminist Theory and Antiracist Politics,“ University of Chicago Legal Forum: Vol. 1989: Iss. 1, Article 8
- Foucault, Michel. „Truth and Power.“ Translated by Colin Gordon et al., The Foucault Reader, edited by Paul Rabinow, Pantheon Books, 1984, pp. 51-75.
- Foucault, Michel. “Afterword: The Subject and Power.” Michel Foucault: Beyond Structuralism and Hermeneutics, 2nd ed., edited by Hubert Dreyfus and Paul Rabinow, University of Chicago Press, 1983, p. 210
- Foucault, Michel. “The Courage of Truth.” First Lecture 1 February 1984 In Lectures at the Collège de France 1983-1984, translated by G. Burchell, 1-22. Picador, 1984. See https://foucault.info/documents/foucault.courageOfTruth/
- Foucault, Michel. “Reply to the Circle of Epistemology.” The Archaeology of Knowledge and The Discourse on Language, translated by A.M. Sheridan Smith, Pantheon Books, 1972, Appendix II, pp. 197–203.
- Foucault, Michel. On the Government of the Living: Lectures at the Collège de France, 1979–1980. Edited by Michel Senellart, translated by Graham Burchell, series edited by Arnold I. Davidson, Palgrave Macmillan, 2014.
- Gutting, Gary, editor. The Cambridge Companion to Foucault. Second Edition, Cambridge University Press, 2007
- Harcourt, Bernard E. Critique & Praxis: A Radical Critical Philosophy of Illusions, Values, and Action. Columbia University Press, 2020.
- Khlentzos, Drew, „Challenges to Metaphysical Realism“, The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Spring 2021 Edition), Edward N. Zalta (ed.), URL = <https://plato.stanford.edu/archives/spr2021/entries/realism-sem-challenge/>.
- Kippes, Robert A. „Why the Left Needs Foucault.“ CounterPunch, 30 Apr. 2021, https://www.counterpunch.org/2021/04/30/why-the-left-needs-foucault/.
- Lorenzini, Daniele. The Force of Truth: Critique, Genealogy, and Truth-Telling in Michel Foucault. The University of Chicago Press, 2023.
- Oksala, Johanna. Foucault, Politics, and Violence. Northwestern University Press, 2012.
[1] the proletarian is the producer who has (literally or in effect) nothing to sell but his own labor power.
[2] Intersectionality is the interconnected nature of social categorizations such as race, ethnicity, social class, age, and sexuality as they apply to individuals or groups, revealing how identity-based systems of oppression and privilege connect, overlap, and influence one another. This concept, first defined by Kimberlé Crenshaw (1989), emphasizes that people experience multiple aspects of identity simultaneously, and the meanings of these aspects are shaped by one another.
[3] What exactly “postmodernism” means is contested. For the purposes of this discussion, I will treat it as a theoretical and cultural orientation marked by skepticism toward universal „grand narratives,“ totalizing systems, and foundationalist claims about truth and identity. One of its defining features is its incorporation of anti-realist tendencies—namely, the view that reality is not wholly independent of our linguistic, perceptual, or conceptual schemes. In contemporary metaphysics, anti-realism is exemplified by philosophers such as Michael Dummett and Hilary Putnam, who challenge the idea of truth as correspondence to a mind-independent world (Khlentzos). While anti-realism is a specific philosophical position within epistemology and metaphysics, postmodernism (if there is such a thing) extends such skepticism into cultural critique, targeting the social construction of knowledge, identity, and power.
Michel Foucault is often associated with postmodern and anti-realist perspectives, though his relationship to these labels is complex and contested. His work resists metaphysical realism, particularly in its claims to objective or universal knowledge, but it does not straightforwardly deny the existence of truth or knowledge per se (this may seem surprising). Eg Colin Koopman has persuasively argued Foucault rejects necessary universals but can accept contingent universals. Regardless, Foucault interrogates how truth claims are produced within historical configurations of discourse and power. Whether Foucault’s position entails a full-blown anti-realism or a strategic nominalism is debated. For the purposes of this analysis, I take no definitive stance on Foucault’s specific metaphysical commitments. Instead, I use the term foundational and anti-foundational to make the distinction between Foucault’s skepticism and necessary universals.
[4] This is not to say Foucault is compatible with the realist claims of Marxism
[5] Class consciousness is the collective awareness of working people regarding their shared position and interests within the class struggle against the capitalist class
[6] Foucault’s genealogy is about using history to understand our present by exposing its complicated, power-laden roots, revealing that what seems fixed could actually be changed
[7] a place or role within a discursive formation or a network of power/knowledge relations that allows for the constitution and expression of subjectivity, enabling individuals to speak, think, and act according to established rules and norms
[8] subjectivation is the complicated, historical process by which people become the kinds of individuals they are, shaped both by the systems of power, rules, and ideas they live within and by their own active ways of forming themselves (like how we present ourselves or claim an identity), revealing that how we are isn’t fixed but is a result of specific historical conditions that can potentially be changed or resisted
„Whether one rejects or accepts a transcendent revolutionary subject, the Marxist goal of building collective class consciousness requires convincing individuals from diverse social situations that their interests align with the revolutionary struggle against capital. My argument is that this involves more than simply presenting economic facts or proving the „falseness“ of their current beliefs. Foucault’s analysis suggests that people are not simply deceived by false ideas; they are constituted as subjects operating within specific regimes of truth that shape their understanding of reality, themselves, and their commitments.“
Just taking a singular example and not trying to start a fight or anything but Marxists are not that naīve and unaware. This is a misreading of anything Marxism is about and it’s sad that I have to defend Marxism in front of people that I presume are Marxists themselves. I request you to refer to the section The Material Basis of Ideological Development, Ideology (Ch.6), pp 74 from The Theory of Knowledge by Maurice Cornforth where he explains this taking reference mainly from The German Ideology, and also many other things. The whole book is actually quite nice.
I love what your magazine posts and I do not disagree with this article, btw. I do agree that Marxists must read outside Marxism too, I do that myself. My favourite authors include Pierre Bourdieu, Erich Fromm and Theodor Adorno. They give one a lot to understand and a lot more to talk about. In fact, in the era of Fascist uprising we must equally ensure that we’re developing a cultural consciousness in-depth. I’m from India and it’s a Fascist country, so I very much get the need for that. My problem is often that when people suggest Marxists *need* support from progressive theory outside Marxism such as PoMo, Critical Theory (which I do myself read, again), it tends to dilute what Marxists themselves have already mentioned over and over again. We’re not a bunch of idiots with „economic diagrams“, we’re disciples of the man who changed the very way politics is perceived. So yes, we’re quite aware of the complexities of the way system works and yes, that includes understanding ideology.
Let me just say this, yes, Foucault is indeed quite brilliant and yes, we absolutely should read him and others too to expand our knowledge. It’s always a plus to know more. However, no, Marxism isn’t a simplistic theory that relies on the simplistic notion of false consciousness. This is the problem that I’ve seen with people who think they don’t need to read Marxists in order to actually form an opinion on Marxism. I often mention that one of the most eye opening and brilliant theory around culture and ideology was actually developed by an Italian Marxist (Antonio Gramsci). Marxism isn’t merely an economic theory, it just puts an emphasis on economics which is only correct and we cannot get away from that.
I do not agree with dogmatism, so yes, I disagree when Marxists say „Oh we don’t need anything else/anything more.“ We absolutely do and it’s foolish to think we don’t. So I’m not arguing against reading PoMo and Critical Theory as I myself encourage Marxists to read outside Marxism, but I’m pointing out that this does not need to rely on a misreading of Marxism as it often does. It’s quite derogatory if I may say so.
You’re right that framing it as “what Marxism needs” risks implying a deficiency that isn’t there. A more accurate formulation might be: “Here’s what Foucault can offer Marxists working to build class consciousness under conditions where power operates in increasingly subtle, decentralized ways.” That doesn’t displace Gramsci, it builds from the same impulse—to meet people where they are, and to understand how they come to see the world as they do.
Lastly, your point about building cultural consciousness in an era of rising fascism—especially from your experience in India—is deeply important. We absolutely need to ensure that cultural struggle is not seen as secondary to economic struggle, but as one of its most critical battlegrounds.
Thank you again for your engagement. You’ve helped refine my thoughts, and I hope to take these aspects of Marxism more seriously.
—Julian R. Vale // Guest Author