Widerwillig mitfühlend
Widerwillig mitfühlend
Die europäischen Staaten haben die Schnauze voll – nicht vom Völkermord, sondern der wachsenden Krise ihrer Herrschaft, die mit der Unterstützung Israels untrennbar verbunden ist. Netanyahu wird symbolisch gedroht, einen Gang zurückzuschalten – eine Farce, versteht sich.
Gramsci und Gerhard Schröder können helfen.

Reminder: Die rot-markierten Wörter sind Links, die zu entsprechenden Kritikpunkt-Artikeln führen.
Im Frühjahr des Wahljahrs 2002 lag die Union unter Kanzlerkandidat Edmund Stoiber bis zu 15% vor der SPD, die unter Gerhard Schröder seit 1998 koalierend mit den Grünen regierte.
Schröder war nicht nur aufgrund von fehlendem Charisma unbeliebt, sondern wahrgenommen als katastrophal für die deutsche Wirtschaft; unter dem „Anti-Sozialdemokraten“ stug die Arbeitslosenquote auf 10.8% an, der Platz der „Dotcom-Blase“ und der Exportabschwung nach dem 11. September waren für deutsche Konzerne katastrophal – Schröder selbst erhielt auf der Empfindungs-Skala von plus fünf bis minus fünf den schlechtesten Wert seiner bisherigen Kanzlerschaft: „Bundeskanzler Schröder erreichte mit 0,2 Punkten (minus 1,3) den schlechtesten Wert, der jemals für den SPD-Vorsitzenden gemessen wurde.“[1]
Die breite politische Debatte in Deutschland war 2002 von der massiven Ablehnung gegen eine deutsche Beteiligung an einem möglichen Angriff auf den Irak geprägt; der absolute Großteil (80%, Forsa)[2] der deutschen Bevölkerung lehnte jenseits von Parteigrenzen eine deutsche Beteiligung am Irakkrieg ab.
So wusste Schröder, um seine Herrschaft zu sichern, die zuvor positiv-Zurückhaltende Haltung der SPD zur Beteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak, zu einer Position der konsequenten Ablehnung deutscher Beteiligung umzuformieren – „auch mit UN-Mandat“.
Der Irakkrieg wurde so nicht nur Kernthema der SPD im Wahlkampf, sondern zum„entscheidenden Vorsprung gegenüber seinem Herausforderer Dr. Edmund Stoiber (CSU)“ – Schröder gewonn die Wahl mit einem Vorsprung von 6000 Stimmen (0.01%).
Die Zurückhaltung Deutschlands isolierte die BRD von ihren Bündnispartnern – „Nicht nur Europäische Union, Nato und Vereinte Nationen seien durch sein international nicht abgestimmtes Nein geschwächt worden, monierte die Politikerin, Deutschland sei nun auch isoliert. ‚Solange Schröder in Berlin regiert, wird Washington ihn als Gegner sehen, in Paris und London gilt er als überambitionierter Amateur.“ Sprach Merkel im Folgejahr.
Nach 40 Tagen, unzähliger Kriegsverbrechen und dem Sturz Saddams verkündete US-Präsident am 1. Mai den Krieg gegen den Irak als „erfolgreich beendet“ – und begann, Aufträge an das Kapital der Staaten zu verteilen, die sich im Sinne der „Koalition der Willigen“ am Krieg gegen den Irak beteiligt hatten, Deutschland blieb also leer aus: „Allein im Irak, so errechnete es die Weltbank, liegt das gesamte Aufbauvolumen bei 55 Milliarden Dollar.“ (2004)[3]
Kapital und Herrschaft
War Schröder also konsequenter Antimilitarist, der entgegen den Interessen des deutschen Kapitals die Kapitalsafari Irak ablehnte?
Nein, selbstverständlich nicht: Tatsächlich verfügte das deutsche Kapital bereits vor Beginn des Irakkriegs über erhebliche wirtschaftliche Interessen und Verankerungen im Irak. Im Rahmen des von den Vereinten Nationen regulierten „Oil-for-Food“-Programms war die Bundesrepublik einer der wichtigsten Handelspartner des irakischen Baath-Regimes. Deutsche Unternehmen – insbesondere aus den Bereichen Maschinenbau, Pharma, Automobilindustrie und Anlagenbau – waren tief in die irakische Wirtschaftsstruktur eingebunden, und es bestanden weitreichende Erwartungen auf eine wirtschaftliche Öffnung und profitable Folgegeschäfte nach einem möglichen politischen Umbruch im Land. Aus rein ökonomischer Perspektive standen die Chancen für das deutsche Kapital daher mehr als günstig, an einem „post-Saddam“-Irak teilzuhaben und sich am Wiederaufbau sowie an Marktöffnungen zu beteiligen.
Die Entscheidung der rot-grünen Bundesregierung, sich nicht am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen den Irak zu beteiligen, bedeutete faktisch einen bewussten Verzicht auf die Aussicht, diese bereits bestehenden kapitalistischen Interessen auszubauen oder durch militärisch abgesicherte Auftragsvergaben zu realisieren. Schröders außenpolitisches Nein zum Krieg war jedoch kein Ausdruck eines strukturellen Widerspruchs zwischen deutscher Außenpolitik und den Interessen des Kapitals – Vielmehr stand es im Zeichen eines innenpolitischen Ausnahmezustands, in dem der Fortbestand der bürgerlichen Herrschaft akut gefährdet war. Die Zustimmung zur Kriegsbeteiligung hätte in einem historischen Moment massiven gesellschaftlichen Widerstands – getragen von bis zu 80 % der Bevölkerung – zu einer offenen Krise der Regierungsfähigkeit führen können.
Die Weigerung Schröders, sich an der Invasion des Irak zu beteiligen, war taktische Maßnahme zur Herstellung eines innenpolitischen Burgfriedens – als Versuch, die sozialpolitische Legitimität einer durch massive Kürzungsprogramme (Agenda 2010) belasteten Regierung kurzfristig wiederherzustellen. Durch das gezielte Besetzen eines emotional stark aufgeladenen außenpolitischen Konflikts gelang es, breite Teile der Bevölkerung hinter der Exekutive zu versammeln und den inneren Klassengegensatz temporär zu befrieden. Die Ablehnung des Krieges war damit weniger ein Bruch mit imperialistischer Logik als ein Mittel zur Stabilisierung bürgerlicher Herrschaft unter Bedingungen drohender Legitimitätsverluste.
Der deutsche Imperialismus verzichtete in diesem Moment nicht auf geopolitische oder ökonomische Interessen, sondern priorisierte die langfristige Erhaltung der politischen Hegemonie im Innern gegenüber der kurzfristigen Ausschöpfung äußerer Dividenden.[4]
Viva Palästina?
Am 19. Mai dieses Jahres, forderten 22 Staaten, unter ihnen Deutschland, medienwirksam die „vollständige Wiederaufnahme der Hilfen für den Gazastreifen“ – die Bevölkerung Gazas müsse „die Hilfe erhalten, die sie verzweifelt benötigt“: Am Folgetag traten die Staats- und Regierungschefs von Frankreich, Großbritannien und Kanada im Sinne der Erklärung an die Öffentlichkeit, in der sie mit „konkreten Maßnahmen“ drohten, „Sollte Israel die erneute Militäroffensive nicht einstellen und die Beschränkungen der humanitären Hilfe nicht aufheben“ – „Das menschliche Leid in Gaza ist unerträglich“, heisst es in der Stellungnahme weiter; die Ausweitung der Angriffe auf den „teils bis zur Unkenntlichkeit zerstörten“ Küstenstreifen lehne man entschieden ab. Man werde „nicht tatenlos zusehen, während die Netanyahu-Regierung diese ungeheuerlichen Maßnahmen fortsetzt“.
Nach 596 Tagen Völkermord verzeichnen sämtliche europäische Staaten, ohne Ausnahme, einen anhaltenden Anstieg in pro-palästinensischem, bzw. zumindest Israel-kritischem, Sentiment.
Laut neuster Angaben des ZDF-Politbarometers empfinden 80% der Menschen in Deutschlands das militärische Vorgehen Israels im Gazastreifen als „nicht gerechtfertigt“, ähnliche Zahlen finden sich in sämtlichen anderen europäischen Staaten vor.
Die gesellschaftliche Lage ist so düster, dass selbst Merz, das Sprachrohr des transatlantischen Kapitals, in Vilinus davon sprach, er „sei sehr besorgt über die Lage im Gazastreifen und auch über die Intensivierung der dortigen militärischen Operationen der israelischen Armee. Mehr als besorgt“.
Für die jeweiligen Staaten, die bisher und immer noch direkt mit dem Völkermord in Gaza kompliz sind, bedeutet das eine ernste, und manifeste Krise des Herrschaftsanspruchs.
Hegemoniekrise
Wie wir in verschiedenen Artikeln behandelt haben, ist die Palästina-solidarische Bewegung an sich eine neue, insofern dass sie die erste Bewegung seit Jahrzehnten ist, die man tatsächlich als Massenbewegung bezeichnen könnte.
Sie zieht sich über sämtliche Schichten, Herkünfte und Alter der arbeitenden Klasse, drückt sich von Protest, Streiks, und Boykotts über stille Solidarität und individuelle epistemologische Brüche aus – damit ist sie anders, als sonstige Solidarische Bewegungen, die sich meist auf einzelne (oft Herkunft bedingte) Communities konzentrieren.
Die große Gefahr bei ihr ist eben darüber hinaus, dass nahezu sämtliche Westliche Staaten in ihrer Politik und Rhetorik Israel einen ganz besonderen Bezug gewandt haben – insbesondere natürlich für Deutschland, dessen „Staatsräson“ sich in dem Schutz Israels ergebe, genau so aber für sämtliche anderen EU-Staaten, die Israel zumindest in geringem Maße eine einzigartige Partnerschaft zugesprochen haben.
Diese „besondere Freundschaft“, die so viele Staaten zu Israel pflegen, ist selbstverständlich Folge der einzigartigen Kapitalvorteile, die eine gute Beziehung zu Israel den jeweiligen Staaten bringen kann – „Israel dient seit Staatsgründung, als stationärer Flugzeugträger der Kapitalinteressen westlicher Konzerne und deren vertretenen Regierungen in der Region.
So stellt Israel seit dessen Staatsgründung den Brückenkopf der Kapitalinteressen des westlich-imperialistischen Blocks im Nahen Osten dar, welcher die besondere Charakteristik hat, dass er durch seine zionistische Natur ein aktiv-koloniales Projekt gegen die palästinensischen Indigenen darstellt.“ Wie wir in einem anderen Artikel geschrieben haben.
Diese besondere Bindung zu Israel ging auch viele Jahrzehnte, trotz routinierter Kriegsverbrechen, mehr oder weniger gut – nicht jedoch im Informationszeitalter: „Ganz aktiv kann dieser Bruch am Völkermord in Gaza beobachtet werden; die Existenz der unglaublichen Menge an privatem Filmmaterial, unmittelbarer Aufnahmen der israelischen Kriegsverbrechen und ständigen Nachrichten neuer Grauen der Palästinenser (eben abseits der bisher dominanten Nachrichtenportale) im Kontrast zu der aktiv hegemonialen Berichterstattung der Tagesschau, des Guardians, der Bild und Co. hat einen niemals dagewesenen Bruch mit der kulturellen Hegemonie hierzulande angeführt.
Schaut man in die Kommentarspalten der Tagesschau, der New York Times oder sonstiger bürgerlicher Berichterstatter zum Thema Palästina, entgegnet man einem Maß an Kritik, dass einzig wegen der Entwicklung der Informationstechnologie existiert.“[5]
Ein gesellschaftlicher Bruch mit Israel, bedeutet also für die Herrschaft Gleichmaßen ein Bruch mit ihr selbst; er stellt eine tiefgreifende Herausforderung für die herrschende Ordnung selbst dar. Die politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung Israels durch die Staaten des globalen Nordens – insbesondere der EU und der USA – ist Ausdruck eines handfesten Klasseninteresses: Israel als Brückenkopf des Kapitals in einer rohstoffreichen, geostrategisch entscheidenden Region – Wenn sich nun weltweit, auch in den Zentren der westlichen Welt, ein gesellschaftliches Bewusstsein darüber entwickelt, dass in Gaza ein Völkermord stattfindet – und dieses Bewusstsein nicht mehr auf Einzelfälle oder „Fehler im Krieg“ reduziert wird, sondern das israelische Projekt als systematisch kolonial, rassistisch und mörderisch erkannt wird, dann steht ein Bruch mit der gesamten Staatslegitimation des bürgerlichen Staatsapperat auf dem Spiel.
Um die Herrschaft zu sichern, den Widerspruch zwischen kultureller Hegemonie und subjektiver Erfahrung der Beherrschten also zu schlichten, muss die Herrschaft in ihrer Krise ihre Selbstdarstellung anpassen, um die Stabilität nach Innen zu sichern – für die Herrschaft der europäischen Staaten bedeutet das, den Schröder zu machen.
Zurückrudern
Zwischen 2003 und 2023 wurden 4.427 Einzelgenehmigungen für Rüstungsexporte nach Israel mit einem Gesamtwert von etwa 3,3 Milliarden Euro erteilt, im Rekordjahr 2023 allein waren es 326 Milionen Euro.
Zu den Exportgütern gehören die Dieselmotoern des israelischen Merkava-4-Panzers (durch Rheinmetall), der sich seit Anfang der Bodenoffensive auf dem Boden Palästinas befindet, und Teile der Sa’ar-Korvetten (durch ThyssenKrupp Marine Systems), die an der Seeblockade Gazas beteiligt sind.
Weitere deutsche Rüstungshersteller für Israel sind Dynamit Nobel Defence, MTU Friedrichshafen und Krauss-Maffei Wegmann.
Deutschland ist so, neben den Vereinigten Staaten, der Hauptexporteur israelischer Militärgüter – Im Zeitraum 2019–2023 machten deutsche Waffen 30 Prozent der israelischen Importe aus. 2023 lag der Anteil sogar bei 47 % der schweren konventionellen Waffenimporte Israels.[6]
Die Komplizenschaft wird nun aber erst dann zum Problem, wenn sie einen Keil zwischen dem zu beherrschenden Subjekt und der Herrschaft führt – das kann sie jedoch erst dann, wenn das Bewusstsein über die Komplizenschaft überhaupt existiert.
Gramsci schreibt in den Gefängnisheften: „Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann: in diesem Interregnum kommt es zu den unterschiedlichsten Krankheitserscheinungen.“[7]
Das Alte, d.h. das Einverständnis mit der Sonderstellung Israels und dessen Folgen, stirbt – das Neue, d.h. eine konsequente Trennung von Israel ist nicht möglich, weil sie deutschen Interessen, viel mehr noch als zum Irak-Krieg, ungemein schädigen würde – aus diesem Widerspruch, diesen Wehen, entsteht das ernsthafte Risiko des Legitimationsverlustes der deutschen Außenpolitik, eines Bruchs mit der ideologischen Hegemonie – um diesen Bruch zu verhindern, rudern die europäischen Herrschenden zurück; Heuchelei, versteht sich.
[1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/katastrophale-umfragewerte-schroeders-spd-in-historischem-tief-a-222923.html
[2] https://archive.globalpolicy.org/ngos/advocacy/protest/iraq/2002/1113german.htm
[3] https://www.manager-magazin.de/unternehmen/artikel/a-302696.html
[4] Der (ebenso völkerrechtswidrige) Angriffskrieg gegen Jugoslawien, hatte drei Jahre zuvor, d.h. zum Beginn der Legislaturperiode, zwar erhebliche Spannungen und potentielle Wählerverluste für SPD und Grüne bedeutet, aber dem deutschen Kapital auch erhebliche Anteile an den zu 75% an ausländische Investoren verschacherten jugoslawischen Konzerne bedeutet.
[5] https://kritikpunkt.com/de/2025/04/07/der-tod-der-hegemonie/
[6] https://www.sozialismus-von-unten.org/waffenexport-nach-israel-ins-visier-nehmen/
[7] Heft 3, S353