Das Puzzlestück: Mahmoud Abbas
Das Puzzlestück: Mahmoud Abbas
Der seit 2006 nicht legitimierte, überwältigend unbeliebte, “Handlanger Israels”, Präsident Palästinas, Mahmoud Abbas ist das Puzzlestück zum Verständnis der Teilung Palästinas, dem Erfolg der Hamas, dem Niedergang der Fatah und dem 7. Oktober.

Unser ausdrücklicher Dank gilt den Genossen der Palästinensischen Kommunistischen Partei und ihrer Jugendorganisation, die uns trotz der grausamen Bedingungen, unter denen sie derzeit leben, mit ihren Anmerkungen und ihrer Expertise bei der Ausarbeitung dieses Beitrags unterstützt haben.
Wenn wir im Artikel also von „Palästinensischen Kommunisten“ sprechen, sprechen wir von ihnen – ihre Anmerkungen haben wir auf Deutsch übersetzt.
Auf unserer Palästina-Seite findet ihr etliche weitere aktuelle Artikel zum Thema Palästina. Besonders empfehlen wir „Kapital greift Gaza“ über die Interessen der USA und Europas an der Unterstützung des Genozids sowie „Widerstand und Terror“ zur Einstufung der Hamas.
Nach Yassir Arafats dubiosem Tod 2004 übernimmt der “Moderate” Mahmud Abbas die Führung der Palästinensischen Autonomiebehörde – nicht durch demokratischen Willen, sondern gestützt durch USA und Israel – seitdem sagte er jede anstehende Wahl zu gunsten des eigenen Herrschaftserhalts ab; seine Zustimmungswerte liegen inzwischen bei 14%. Abbas Verweigerung der Wahlergebnisse spaltete 2006 Palästina – und verhinderte 2021 die Widervereinigung.
Den fortgesetzten Siedlungsbau toleriert er, die Blockade Gazas bat er selbst bei den USA an, und politische Repression wird mit Israel koordiniert. Abbas Rolle in Palästina ist nicht nur fundamental für das Verständnis des andauernden “Konflikts” – seine Wahrnehmung als “Marionette” und Zerstörer jeder Hoffnung für die Fatah ist Kernursache für den Erfolg der reaktionärsten Organisationen in der palästinensischen Politik.
Wer ist Mahmoud Abbas?
Mahmoud Rida Abbas wurde im November 1935 in der gemischt jüdisch-muslimisches Stadt Galilee, britisches Protektorat Palästina, geboren.
Während der Nakba floh der 13-jährige Abbas mit seiner Familie nach Syrien, wo er an der Universität Damaskus Jura studieren würde.
Schon ab Mitte der 50er Jahre engagierte sich Abbas in diversen palästinensischen Untergrundbewegungen, bevor er 1961, mit 26 Jahren, in die zwei Jahre zuvor von Jassir Arafat gegründete Bewegung zur nationalen Befreiung Palästinas (Fatah) berufen wurde.
Die Fatah gewann in den 1960er Jahren rasch an Bedeutung, weil sie sich als unabhängige, säkulare und nationalistische Bewegung positionierte, die den bewaffneten Kampf gegen Israel ins Zentrum ihrer Strategie stellte. Im Unterschied zu anderen palästinensischen Gruppen, die häufig von arabischen Regierungen beeinflusst oder instrumentalisiert wurden, agierte die Fatah eigenständig und betonte die Notwendigkeit einer palästinensischen Selbstorganisation und -vertretung:
Kern dieser politischen Überlegungen war der Gedanke des palästinensischen Nationalismus – durch den Slogan „Filastine awwalan“ (Palästina zuerst).
Fatah
Fatah unterschied sich von der PLO, die 1964 auf Initiative der Arabischen Liga und unter maßgeblichem Einfluss des ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser gegründet wurde, durch ihre Basisorientierung und ihren Fokus auf den eigenständigen, palästinensischen Widerstand, während die PLO zunächst eher ein politisches Konstrukt der arabischen Staaten war. Erst nach dem Sechstagekrieg 1967 und dem Rücktritt des ersten PLO-Vorsitzenden Ahmad Schukeiri konnte die Fatah unter Arafats Führung die Kontrolle über die PLO übernehmen und sie zu einer authentischen Vertretung der palästinensischen Nationalbewegung transformieren.
Die Fatah war, zumindest zum Anfang, sehr wohl eine ideologisch progressive Gruppierung, die in ihrer Programmatik auf die nationale Befreiung jenseits von „klassenspezifischen oder sozialen Rechten“ setzte – auf dem gesamten Gebiet Palästina sollte, laut Fatah-Verfassung (1964) ein umfassender, demokratischer Staat errichtet werden, in dem „Juden, Christen und Muslime in Harmonie als gleichberechtigte Bürger zusammenleben.“[1]
Im Unterschied zur heutigen Palästinensischen Kommunistischen Partei, die als einzige in Palästina noch offen marxistisch-leninistische Positionen vertritt, sowie zu Gruppen wie der PFLP und der DFLP, die sich international zwar weiterhin als marxistisch oder kommunistisch darstellen, sich innerhalb Palästinas jedoch von solchen Selbstbeschreibungen distanzieren [0]
, verzichtete auch die Fatah von Anfang an auf eine verbindliche ideologische Festlegung. Zwar bezogen sich ihre Gründer in der Frühphase auf antikoloniale Vordenker wie Mao, Che Guevara oder Frantz Fanon, doch stellten sie politischen Pragmatismus ins Zentrum ihrer strategischen Ausrichtung.[2]
Die ideologische Ungebundenheit ermöglichte der Fatah ein breites Netzwerk von finanziellen, oft widersprüchlichen Unterstützern:
„So empfing die Fatah-Führung in den 60er Jahren beispielsweise Geld von konservativ-gemäßigten Ölscheichtümern wie Saudi-Arabien oder Kuwait und ließ sich von Ägypten die Tür Richtung Sowjetunion öffnen, während Fatah-Kämpfer gleichzeitig in den algerischen Revolutionslagern ausgebildet und von Syrien mit Waffen versorgt wurden.“[3]
Nach dem „Schwarzen September“ (1971), also dem misslungenem Aufstand gegenüber dem sich Israel annäherndem jordanischem Königshaus, wurde die Fatah (neben sämtlichen weiteren palästinensischen Befreiungsorganisationen), aus Jordanien vertrieben.
Die PLO, die seit 1969 von Fatah-Vorsitz Jassir Arafat geleitet wurde, verlagerte ihre Organisation fortlaufend nach Beirut, wo sie sich am libanesischen „Bürgerkrieg“, der durch die Invasion Israels 1978 (bzw. 1982) begann, beteiligten.
Unter dem Einfluss linker PLO-Fraktionen wie PFLP und DFLP verbündete sich Fatah im libanesischen Bürgerkrieg mit der kommunistisch geprägten Libanesischen Nationalbewegung (LNM).
Umstrittener Zentrist
Nach der Vertreibung der Fatah und der PLO aus Beirut 1982 und der Verlagerung des Hauptquartiers nach Tunis war die Organisation in den 1980er Jahren mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert. Die militärische Niederlage im Libanon, der Verlust der territorialen Basis sowie interne Spaltungen – etwa durch die Abspaltung der „Fatah al Intifada“ 1983 – schwächten die Fatah erheblich. In dieser Phase rückte die politische und diplomatische Arbeit stärker in den Vordergrund.
Während des Libanonkrieges 1982, machte Abbas seinen Doktortitel[4] an der Patrice-Lumumba-Universität in Moskau mit der umstrittenen Examensarbeit „The Other Side: The Secret Relationship Between Nazism and Zionism“, über das Ha‘avaara Abkommen zwischen Nazi-Deutschland und der früh-zionistischen „Jüdischen Agentur für Israel“.
Sein Doktorvater, Vladimir Ivanovich Kisilev, sagte später über ihn; „Es war sehr interessant, mit ihm zu sprechen. Anders als Jassir Arafat, ein sehr emotionaler Mensch, ist Abbas gemäßigt, vorsichtig und unternimmt nie unerwartete Schritte.“[5]
Abbas spielte in dieser Zeit eine zunehmend wichtige Rolle innerhalb der Führung der Fatah und der PLO. Als enger Vertrauter Arafats und zu diesem Zeitpunkt bereits langjähriges Mitglied des Exekutivkomitees der PLO, war Abbas maßgeblich an der Umstrukturierung der Organisation im Exil beteiligt. Er übernahm die Koordination zahlreicher politischer Initiativen und war federführend bei der Entwicklung neuer Strategien, um die internationale Anerkennung der PLO zu sichern.
Abbas’ Führungsstil war von Anfang an von Kritik begleitet – Innerhalb der PLO und der Fatah wurde ihm oft vorgeworfen, zu kompromissbereit und wenig charismatisch zu sein, insbesondere im Vergleich zu Arafat.[6] Viele Palästinenser betrachteten seine diplomatische Linie als zu nachgiebig gegenüber westlichen Interessen und als Zeichen mangelnder Durchsetzungskraft. Auch fehlte es der Fatah in dieser Zeit an interner Selbstkritik und demokratischer Erneuerung, was die Organisation anfällig für Vetternwirtschaft und interne Machtkämpfe machte. Abbas selbst wurde außerhalb der PLO mitunter als Symbol für Vetternwirtschaft und Selbstbereicherung wahrgenommen.
Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag auf der Suche nach politischen Lösungen für den Nahostkonflikt:
Abbas war einer der ersten führenden PLO-Politiker, der sich für eine Zwei-Staaten-Lösung und für Verhandlungen mit Israel aussprach – trotz massiver Opposition innerhalb der PLO und Fatah. In den späten 1980er Jahren war er maßgeblich an geheimen Kontakten und Sondierungen beteiligt, die auf eine politische Annäherung an Israel abzielten.
Camp-David, Oslo und Abbas
Die Camp-David-Abkommen von 1978 markierten einen Wendepunkt in der Nahostpolitik, indem sie unter US-amerikanischer Vermittlung zu einem Friedensvertrag zwischen Ägypten und Israel führten. Diese Vereinbarung klammerte die palästinensische Frage weitgehend aus und führte zu einem Separatfrieden auf Kosten der arabischen und insbesondere der palästinensischen Interessen. Während Ägypten territoriale Rückgewinne und internationale Anerkennung erzielte, blieb die Situation der Palästinenser ungelöst und die israelische Kontrolle über die besetzten Gebiete unangetastet:
„Die Palästinenser sprachen sich für die Schaffung eines palästinensischen Staates auf der Grundlage der Grenzen vom 4. Juni 1967 aus, der Seite an Seite mit Israel leben sollte… Sie akzeptierten die Idee der israelischen Annexion von Teilen des Westjordanlandes, um Siedlungsblöcke zu errichten. Sie akzeptierten den Grundsatz der israelischen Souveränität über die jüdischen Stadtteile Ost-Jerusalems – Stadtteile, die vor dem Krieg von 1967 nicht zu Israel gehörten. Und während sie auf der Anerkennung des Rückkehrrechts für Flüchtlinge bestanden, akzeptierten sie, dass dieses Recht in einer Weise umgesetzt wird, die Israels demografische und sicherheitspolitische Interessen wahrt, indem die Zahl der Rückkehrer begrenzt wird. Keine andere arabische Partei, die mit Israel verhandelt hat – weder Anwar el-Sadats Ägypten, noch König Husseins Jordanien, noch Hafez al-Assads Syrien – hat jemals auch nur annähernd solche Zugeständnisse in Betracht gezogen.“
Noch umfassender und nachhaltiger wurde diese Kritik im Zusammenhang mit dem ersten Oslo-Abkommen 1993 formuliert. Die unter maßgeblicher Beteiligung von Mahmoud Abbas ausgehandelten und unterzeichneten Vereinbarungen stellten einen Paradigmenwechsel in der palästinensischen Politik dar: Die PLO erkannte erstmals das Existenzrecht Israels an und verpflichtete sich zu einem politischen Prozess, der schrittweise zur Selbstverwaltung in Teilen des Westjordanlands und des Gazastreifens führen sollte. Zentrale palästinensische Forderungen – wie vollständigen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten, einem Stopp des Siedlungsbaus oder dem Recht auf Rückkehr für Flüchtlinge – wurden faktisch nicht adressiert:
„Im Rahmen dieses Abkommens, das hinter dem Rücken des palästinensischen Volkes ausgehandelt wurde, erklärte sich Israel bereit, sich teilweise aus den besetzten Gebieten zurückzuziehen, und es wurde ein palästinensischer Halbstaat, die Palästinensische Autonomiebehörde (PA), gegründet. Das Problem bestand jedoch darin, dass 60 Prozent des Westjordanlandes vollständig unter israelischer Kontrolle bleiben würden.
Im Gegenzug erklärten sich Jassir Arafat und die PLO bereit, den Staat Israel anzuerkennen und ihre Forderung nach dem Recht der während der Nakba vertriebenen Palästinenser auf Rückkehr in ihre Häuser aufzugeben. Stattdessen erklärte sich die palästinensische Führung bereit, auf die Wiederherstellung der Grenzen von vor 1967 hinzuarbeiten, wie sie in der UN-Resolution 242 anerkannt wurden – genau die Bedingungen, die heute von den offiziellen kommunistischen Parteien gefordert werden.
Ferner vereinbarten die Parteien, „die Grundlagen für die Stärkung der wirtschaftlichen Basis der palästinensischen Seite zu schaffen“. Dies sollte jedoch dadurch erreicht werden, dass Palästina in eine Zollunion mit Israel aufgenommen wird. Palästina würde auch die gleiche Währung, den israelischen Schekel, verwenden.
Schließlich wurde eine palästinensische Polizei eingerichtet, aber der israelische Staat behielt „alle Befugnisse“, um „innere Sicherheit und Ordnung“ zu gewährleisten. Israel behielt auch die ausschließliche Kontrolle über die Grenzen und den Luftraum Palästinas.“ [7]
Abbas pragmatische und kompromissorientierte Verhandlungsstrategie wurde von vielen als zu weitreichende Konzession an Israel interpretiert, zumal wesentliche Fragen des Endstatus (wie Jerusalem, die Flüchtlingsfrage und die Siedlungen) vertagt wurden. Während Abbas’ Ansatz zunächst als diplomatische Öffnung und Hoffnung auf eine gerechte Lösung wahrgenommen wurde, wuchs die Enttäuschung angesichts der ausbleibenden Fortschritte und der fortgesetzten Expansion israelischer Siedlungen – Die daraus resultierende Fragmentierung der palästinensischen Gebiete und die Schwächung der nationalen Bewegung werden vielfach als direkte Folge der Oslo-Politik und der damaligen Führungsentscheidungen gesehen – In der Rückschau gilt der „Oslo Frieden“ in weiten Teilen der palästinensischen Gesellschaft als gescheitert und wird mit einer Politik der Abhängigkeit und unvollständigen Souveränität assoziiert:
„Aus unserer Sicht als palästinensische Kommunisten kann die Rolle von Mahmoud Abbas nicht losgelöst vom Projekt der Osloer Abkommen verstanden werden, einem historischen Wendepunkt, an dem sich der politische Weg der Palästinenser von einem nationalen Befreiungskampf zu einem Projekt der “Bewältigung des Lebens unter der Besatzung“ verschob.“ Erzählen uns die palästinensischen Kommunisten.
Die Oslo-Accords brachten weitrechende Enttäuschung und Desillusionierung der palästinensischen Zivilbevölkerung mit sich:
Bereits vor Anbeginn des Völkermords, bewerteten 63 Prozent der palästinensischen Bevölkerung die Palästinensische Autonomiebehörde, und damit das zentrales Ergebnis der Oslo-Abkommen, als Last für die palästinensische Bevölkerung. Über die Hälfte würde eine sofortige Abschaffung der PA befürworten.[8]
Die Intifada war mit dem „Oslo-Frieden“ also beendet, so jedoch auch der Rückhalt der PLO in der Bevölkerung; die von der PLO akzeptierte Vertagung zentraler Fragen wie des Status von Jerusalem, des Rückkehrrechts der Flüchtlinge sowie des fortgesetzten israelischen Siedlungsbaus – Entscheidungen, die von weiten Teilen der palästinensischen Bevölkerung nicht nur als unzureichend, sondern als eklatante Preisgabe fundamentaler nationaler Interessen gewertet wurden, führte zu einem massiven Rückhaltsverlust Arafats und Abbas unter den Palästinensern.
Die palästinensischen Genossen beschrieben es wie folgt:
„Abbas war nicht nur Mitglied des Verhandlungsteams in Madrid und Oslo, er war einer der wichtigsten Architekten des Abkommens und sein politischer und wirtschaftlicher Vollstrecker vor Ort. Seitdem fungiert er durch die Sicherheitskoordination als Garant für die israelische „Sicherheit“ und hat die Institutionen der Palästinensischen Autonomiebehörde in interne Repressionsinstrumente umgewandelt, die gegen alle Formen des bewaffneten, populären und sogar intellektuellen Widerstands gerichtet sind.“
Die PLO-Führung wurde zunehmend als opportunistisch und kompromissbereit wahrgenommen, wobei viele Palästinenser ihr vorwarfen, sich von den ursprünglichen Zielen des nationalen Befreiungskampfes entfernt und diese zugunsten fragwürdiger politischer Zugeständnisse geopfert zu haben. Verschärft wurde diese Kritik durch weit verbreitete Berichte über Korruption, Vetternwirtschaft und Intransparenz innerhalb der PLO-Strukturen, was das ohnehin schwindende Vertrauen in die Organisation weiter massiv beschädigte und den Eindruck einer selbstbezogenen, von Eigeninteressen geleiteten Elite verstärkte.
In diesem Klima der Enttäuschung und politischen Desillusionierung konnte die Hamas, die sich während der Intifada als bedeutende Oppositionskraft etabliert hatte, ihren Einfluss erheblich ausweiten. Sie profitierte nicht nur von ihrer konsequenten Ablehnung des Oslo-Prozesses, sondern von ihrer Fähigkeit, soziale Dienstleistungen bereitzustellen und sich als authentische Stimme des Widerstands zu inszenieren – die Hamas verstand es, die wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung für sich zu mobilisieren und sich als glaubwürdige Alternative zur als kompromittiert empfundenen PLO zu präsentieren.
Als das Westjordanland im Sinne des Oslo-II-Abkommens 1995, im Tausch gegen autonome Regierungskompetenzen der PLO, zu 73% unter israelische Kontrolle gestellt wurde (Zone B und C), herrschte in der Palästinensischen Zivilbevölkerung ein Klima des tiefen Misstrauens und wachsender Ernüchterung gegenüber der PLO und Arafat.
Arafats Ende und zweite Intifada
Der rapide Ansteigende Siedlungsbau, verbunden mit der Enttäuschung gegenüber dem Oslo-Frieden und den Camp-David-Verhandlungen, führten 2000, nach israelischer Provokation durch Tempelberg Besuch des radikal-zionistischen Politikers Ariel Sharon, zum Beginn der zweiten Intifada.
Arafat wusste um das Image der PLO als Steigbügelhalterpartei und beschloss ab 2001 die al-Aqsa-Brigaden (den im Vorjahr gegründeten (später) militärischen Arm der Fatah) an der Seite von Hamas, dem islamischen Jihad, der PFLP und DFLP kämpfen zu lassen.
Rund ein Drittel der 143 Selbstmordanschläge der zweiten Intifada gingen auf das Konto der Fatah – eine offensichtlich drastische Wendung von der moderaten-Fatah, die noch wenige Jahre zuvor mit Bill Clinton verhandelte – eine Entwicklung, die ohne Frage als Methode gegen zur Ranggleichhaltung gegenüber der Hamas und Co. gesehen werden kann:
„Das Auftreten der Al-Aqsa-Märtyrerbrigaden, eines militanten Ablegers der Fatah, spiegelte das Bedürfnis der Bewegung wider, ihre fortbestehende Relevanz und Militanz angesichts der Kritik innerhalb der palästinensischen Gesellschaft zu demonstrieren, sie sei zu moderat und Israel sowie den USA zu nahe gekommen. Durch die Unterstützung der Brigaden versuchte die Fatah, ihre Glaubwürdigkeit unter den Palästinensern – insbesondere bei der Jugend – zurückzugewinnen und mit islamistischen Gruppen wie Hamas und Islamischem Dschihad zu konkurrieren“ [9]
Als Folge auf die zweite Intifada errichtete Israel die völkerrechtswidrige Sperranlage („Mauer“) im besetzten Westjordanland, von der nur 20% entlang der der Waffenstillstandslinie von 1949 („Green Line“) verlaufen – eine Entwicklung, die zehntausenden Palästinensern den Lebensunterhalt kosten würde.
Arafat wurde ab 2002 in seinem Hauptquartier in Ramallah von israelischen Soldaten unter Hausarrest gesetzt, sein Amtssitz als Präsident Palästinas wurde während der Besetzung Ramallahs von israelischen Soldaten im selben Jahr zerstört:
„Arafat ist in zwei Zimmern und einem Badezimmer gefangen, umgeben von Trümmern und israelischen Panzern. Er hat keinen Strom, kein Wasser, und sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist ein batteriebetriebenes Mobiltelefon.“ [10]
Ariel Sharon, der mittlerweile Premierminister Israels war, erkläre Arafat zum „Feind Israels“ – Israel und die Vereinigten Staaten verweigerten ihm die Beteiligung an Friedensprozessen, die Fortan von Mahmoud Abbas geleitet werden sollten.
Abbas, der Währenddessen als Ministerpräsident agierte, wurde von Arafat wiederholt massiv kritisiert, nicht nur weil er die Intifada als Ganzes (unabhängig von ihren Mitteln) ablehnte, sondern weil er in den Verhandlungen mit Israel „zu weich und zu kompromissbereit“ sei.
Schon 2003 galt Abbas „bei vielen Palästinensern als Marionette der USA und Israels“[11] – ähnliches dachte wohl auch Arafat, der ihn nach rund 100 Tagen im Amt de-facto absetzte.
Der Friedensprozess stagnierte und sollte erst im Folgejahr wieder an Tempo gewinnen – jedoch ohne Arafat.
Arafat stirbt
Passenderweise sollte sich Arafats Gesundheitszustand kurz nach dem Rauswurf Abbas‘ weiter verschlechtern.
Der Alternde Arafat wurde am 28. Oktober auf Sondererlaubnis Israels ins Militärkrankenhaus Percy gebracht – hier verstarb er 13 Tage später an Leber- und Niederversagen.
Falls du nun denkst, der Tod Arafats sei für Israel und die Vereinigten Staaten zu einem verdächtig passenden Zeitpunkt eingetreten, dann denkst du richtig:
Aus den Reihen sämtlicher palästinensischer Fraktionen, auch solche, die zuvor kein gutes Verhältnis zu Arafat pflegten (Hamas, Islamischer Djihad), kamen unmittelbar nach seinem Tod Anschuldigungen, er sei von Israel vergiftet bzw. ermordet worden.
Die Debatte um Arafats Tod ist zu kompliziert, um sie hier im Detail auszuführen, um es also kurz zu machen:
Die Knochenproben von Arafats Leichnam, der 2012 exhumiert wurde, wiesen laut einer umfassenden Studie am renommierten Schweizer Universitätsspital Lausanne (CHUV) Werte des radioaktiven Isotops Polonium-210 vor:
„Die Hypothese, dass eine Vergiftung mit Polonium-210 die Ursache der klinischen Symptome war, wurde acht Jahre nach seinem Tod aufgestellt, als neue toxikologische und radiotoxikologische Untersuchungen durchgeführt wurden, die unerwartet hohe Werte an Polonium-210- und Blei-210-Aktivität in vielen der analysierten Proben zeigten.
Unter Berücksichtigung der oben genannten analytischen Einschränkungen, hauptsächlich des Zeitablaufs seit dem Tod und der Art und Qualität der Proben, stützen die Ergebnisse die Annahme, dass der Tod die Folge einer Vergiftung mit Polonium-210 war, mäßig.“ [12]
Das Problem bei der Untersuchung, bzw. warum es nicht möglich ist, die Todesursache mit absoluter Sicherheit in der Polonium-Vergiftung zu finden, ist zum einen die extrem kurze Halbzeit des Isotops, und zum anderen die Tatsache, dass auch das Element Blei-210 in den Proben gefunden wurde – Da Polonium-210 beim Zerfall von Blei-210 entsteht, kann eine hohe Menge an Blei-210 eine frühere Poloniumvergiftung verschleiern: Nach einiger Zeit bildet sich aus dem Blei-210 wieder neues Polonium-210, sodass alte Spuren einer Vergiftung nicht mehr eindeutig nachweisbar sind. Von einer angenommenen Giftdosis wäre zum Zeitpunkt der Exhumierung nur noch ein sehr geringer Rest nachweisbar – genau diese winzige Menge war laut den Exhumierungsberichten jedoch noch vorhanden.
Dabei belassen wir es; wir denken jedoch, dass insbesondere durch den politischen Kontext, in dem Arafat starb, eine Meinungsbildung auf Basis der medizinischen Fakten nicht schwer fallen sollte.
Abbas und Hamas
„Die Palästinensische Autonomiebehörde hat sich von dieser Zeit niemals erholt. Sie weiß, dass ihre Anführer jederzeit unter Hausarrest gestellt werden können. Sie weiß, dass die israelische Armee jederzeit in palästinensische Städte einrücken kann. Und so machen sie es bis heute.“[13]
Nach Arafats Tod übernahm Mahmoud Abbas die Führung über die PLO und den Staat Palästina:
„Zum Nachfolger Yasir Arafats wurde Mahmoud Abbas 2004 dementsprechend auch nicht trotz, sondern wegen seiner fehlenden Beliebtheit. Als ‚moderater‘ Politiker wurde er auf Druck der israelischen Regierung, der USA und des damaligen ägyptischen Diktators Husni Mubarak zum Präsidenten der PA ernannt“[14]
Ein häufiges Missverständnis diesbezüglich Ist, dass Abbas die Wahl 2005 nun mal mit 62,3% gewann und diese Tatsache als anfängliche Beliebtheit Abbas interpretiert werden könne.
Diese Interpretation lässt jedoch außer Acht, dass die Hamas, die während der zweiten Intifada durch ihre konsequente Ablehnung der Friedensgespräche enormen gesellschaftlichen Rückhalt gewann, die Präsidentschaftswahl boykottierte.
So blieben nur noch Abbas und sein Rivale, der seit 2002 in Israel inhaftierte Mustafa Barghouthi, zur Wahl – dass Barghouthi, so wie die anderen nicht-Abbas kandidaten, ohnehin keine Chance hatte, beschrieb der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages wie folgt:
„Wahlvorbereitungen und Wahlkampf seien durch verzögerte Bearbeitung von Genehmigungen, Reisebeschränkungen, Beschlagnahme von Material, Verhaftungen und gewaltsame Übergriffe der israelischen Armee teils massiv beeinträchtigt worden. (…) Insbesondere die unabhängigen Kandidaten beklagten, dass sie in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden und nicht alle Wahlkreise erreichen konnten.“ [15]
Außerdem hatten sowohl die USA als auch die EU damit gedroht, ihre Finanzhilfen an die Palästinensische Autonomiebehörde einzustellen, sollte die Hamas nach der Wahl Regierungsämter übernehmen. Die Fatah machte sich dieses Ultimatum zunutze, um verarmte palästinensische Wähler davon abzuhalten, Hamas zu wählen – mit dem Hinweis, dies könne das ohnehin spärliche Voranschreiten beim Aufbau von Infrastruktur sowie bei sozialen Leistungen gefährden, die stark von westlichen Geldgebern abhingen.[16]
Spätestens zu den unmittelbar nach der Wahl stattfindenden Friedensgesprächen zum Ende der Intifada, hatte Abbas seine geschenkte Chance jedoch bereits wieder verspielt – er reiste nach Nordamerika, traf sich mit Bush und dem kanadischen Premier Paul Matrin und ließ sich allein von Bush 50 MIlionen Dollar zum „Wideraufbau Gazas“ zustecken.
Dass Abbas nicht nur ins „Herz des Feindes“ – nach Washington – eingeladen wurde, sondern dort auch noch immense Geldsummen vom „Westen“ erhielt, während Arafat in seinen letzten Lebensjahren politisch isoliert wurde, bestätigte für viele Palästinenser nur, was sie ohnehin längst vermuteten: Abbas wird ihnen nicht helfen.
Diese Erkenntnis spiegelte sich schließlich auch bei der Folgenden Parlamentswahl wider: Bei den Parlamentswahlen 2006, den ersten seit der Oslo-Ära, erzielte die Hamas einen triumphalen Wahlsieg und wurde zur stärksten Kraft im Palästinensischen Legislativrat:
„Es ist eher die Enttäuschung über Fatah, als ein plötzliches Anwachsen islamistischer Stimmungen, die zur Stärkung von Hamas geführt hat. Das palästinensische Volk hat eine starke säkulare Tradition und Hamas hat ihren islamischen Fundamentalismus im Wahlkampf auch nicht hervorgehoben. Sie hat vielmehr mit der Parole „Wandel und Reform“ geworben und Fatahs Korruption und die desolate ökonomische und soziale Lage in den besetzten Gebieten angeprangert. Hamas hat ihre Rolle bei der Organisierung islamischer Wohlfahrtsorganisationen herausgestellt, die kostenlos Lebensmittel, Gesundheitsversorgung und Bildung bieten.“ [17]
Abbas‘ Teilung Palästinas
Nach dem Wahlsieg der Hamas 2006 zeigte sich die politische Führung um Mahmoud Abbas außerstande – oder auch unwillig –, die neue Realität als Ausdruck des demokratischen Willens der palästinensischen Bevölkerung zu akzeptieren, der nun mal maßgeblich auf der Ablehnung der Fatah basierte.
Abbas reagierte mit einer Politik der Ausgrenzung und Blockade gegenüber der gewählten Hamas-Regierung – Obwohl die Hamas unter Ismail Haniyya zunächst Bereitschaft zur Kooperation signalisierte und die Einbindung anderer Fraktionen in die Regierungsarbeit anbot, verweigerte Abbas jede produktive Zusammenarbeit und versuchte, die Macht der Hamas auf institutionellem Wege zu brechen.
Gleichzeitig stellte Abbas das gesamte Sicherheitspersonal Gazas unter seine persönliche Kontrolle und erhöhte die Truppenpräsenz der Fatah-alliierten Präsidentengarde in Gaza von 90 auf über 1000 – und ließ sie von US-Soldaten in „anti-terror Taktiken“ trainieren. [18]
Abbas ging hierbei so weit, dass er sich gegenüber US-Präsident Obama gegen das Ende der Blockade Gazas aussprach, „weil das Hamas stärken würde“ [19].
Israel setze die Autonomiebehörde unter vollstände Blockade, die Europäische Union und die Vereinigten Staaten setzten Hilfsgelder aus und dem Großteil, der in Israel-arbeitenden Palästinenser, war es verboten, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren – so viel zu Anerkennung eines demokratischen Wahlergebnis.
Im Dezember 2006 folgte dann ein misslungener Anschlag auf Haniyya, den die Hamas-Führung Fatah und Israel zuschrieb.
Nach einer kurzen Phase der Einigung zwischen Fatah und Hamas wurde im März 2007 eine Einheitsregierung gebildet, mit Mahmud Abbas als Präsident und Ismail Haniyya als Premierminister. Diese geriet jedoch bald wieder ins Wanken, als es im Juni 2007 zu blutigen Auseinandersetzungen in Gaza zwischen, teils unabhängig operierenden, Fatah- und Hamas-nahen Milizen kam.
Abbas reagierte mit demokratischer Feinfühligkeit: Er setzte zentrale Bestimmungen des palästinensischen Grundgesetzes per Dekret außer Kraft, entließ die Hamas-geführte Regierung und ernannte eine von ihm kontrollierte Notstandsregierung, die nie durch das Parlament bestätigt wurde. Die New York Times schrieb 2006:
„Die Vereinigten Staaten und Israel erörtern Möglichkeiten, die palästinensische Regierung zu destabilisieren, damit die neu gewählten Hamas-Vertreter scheitern und Neuwahlen angesetzt werden, so israelische Beamte und westliche Diplomaten. Ziel ist es, der Palästinensischen Autonomiebehörde so viel Geld und internationale Verbindungen zu entziehen, dass ihr Präsident Mahmoud Abbas in einigen Monaten gezwungen ist, Neuwahlen auszurufen. Die Hoffnung ist, dass die Palästinenser mit dem Leben unter der Hamas so unzufrieden sind, dass sie eine reformierte und gezüchtigte Fatah-Bewegung wieder ins Amt bringen.“ [20]
Als Reaktion auf den Bruch der Einheitsregierung durch Abbas etablierte die Hamas eine eigene Verwaltung und Sicherheitsstruktur in Gaza.
Fortan sollte Palästi na geteilt sein; in das demokratisch seit 2006 nicht legitimierte Westjordanland, und das ebenfalls seit 2006 nicht demokratisch legitimierte Gaza.
Jegliche Versuche der Annäherung zwischen Fatah und Hamas scheiterten seitdem – dennoch steht derzeit die wohl realistischste und vielversprechendste Lösung für eine Wiedervereinigung in Form der „Beijing Declaration on Ending Division and Strengthening Palestinian National Unity“ im Raum – hierfür raten wir, unseren Artikel „der große Streitschlichter“ zu lesen.
Die Anstehende Wahl 2009 sagte Abbas kurzerhand ab, mit der Begründung, dass Israel den Palästinensern im besiedelten Ostjerusalem die Teilnahme an den Wahlen verweigert hatte – die wahrscheinlichere Begründung ist jedoch, dass Abbas und der Fatah-Führung klar war, dass sie auch die Wahl 2009 wieder verlieren würden:
„Die Entscheidung von Präsident Mahmoud Abbas, die Parlamentswahlen am 22. Mai zu verschieben, wurde von einigen Palästinensern als ‚Usurpation der Macht‘ angeprangert … Angesichts der Zersplitterung der Fatah-Bewegung ist die Hamas bei möglichen Parlamentswahlen klar im Vorteil, wie Meinungsumfragen zeigen, die auf einen wahrscheinlichen Erdrutschsieg hindeuten. Abbas‘ Verschiebung der Wahlen im Mai 2021 hat ihren Ursprung in der Befürchtung, dass sich das Wahldebakel von 2006 wiederholen könnte, als die Hamas 76 der 132 Sitze im Legislativrat gewann.“
Auch Israel hätte nicht zulassen können, dass ein anderer, weniger unterwürfiger Präsident die Macht in Palästina, oder zumindest dem Westjordanland, übernimmt – klare Belege, dass Abbas und die israelische Führung gemeinsame Sache bei der Sicherung seiner Herrschaft gemacht haben, gibt nicht zwar nicht, aber die Inhalte der „Palästina Papiere“ lassen es zumindest plausibel erscheinen.
Palästina Papiere und „Napkin Maps“
Am 23. Januar 2011 veröffentliche Al-Jazeera die „Palästina Papiere“ – eine rund 1600 vertrauliche Dokumente umfassende Sammlung von offiziellen Gesprächen zwischen der PLO und Israel, die zwischen 1999 und 2011 stattfanden:
„(Sie) zeigen, dass die PLO-Zugeständnisse machte, die von der palästinensischen Öffentlichkeit mit überwältigender Mehrheit abgelehnt worden wären, und dafür nichts von einer israelischen Regierung erhielt, die sich in zentralen Fragen kaum bewegte.
Ein Dokument zeigte beispielsweise, dass die PLO bereit war, alle illegalen israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem mit Ausnahme von Har Homa zu akzeptieren. Saeb Erekat, der Chefunterhändler der Palästinenser, sagte, das Angebot würde Israel das ‚größte Yerushalayim (Jerusalem, KP) in der jüdischen Geschichte‘ geben.
Andere Dokumente zeigten, dass Tzipi Livni, die damalige israelische Außenministerin, vorschlug, arabische Dörfer in Israel in einen zukünftigen palästinensischen Staat zu „tauschen“. Ein solches Abkommen hätte zehntausende arabische Staatsbürger Israels, die angeblich gleiche Rechte nach dem Gesetz genießen, dazu gezwungen, zwischen ihrer Staatsbürgerschaft und ihrem Land zu wählen“ [21]
Laut den Dokumenten überreichte Abbas 2008 de damaligen israelischen Premierminister Olmert Karten („napkin maps“), die Israel die Annexion fast aller Hauptsiedlungen im Westjordanland erlaubten – mit Ausnahme weniger Gebiete (insgesamt 60-63% der illegalen Siedler). Israel forderte daraufhin noch mehr Land, darunter große Siedlungsblöcke um Jerusalem, während die Palästinenser im Gegenzug nur dünn besiedeltes Ackerland erhalten sollten.
Für viele Palästinenser waren die Al Jazeera Enthüllungen keine Überraschung, dennoch ein Beweis für ihre Erkenntnis, dass Abbas nicht nur untätig gegenüber der andauernden Besetzung Palästinas ist – sondern diese direkt toleriert:
So lebten zum Tod Arafats 2004 etwa 243.900 Israelis in illegalen Siedlungen im Westjordanland, eine materielle Bedingung, die maßgeblich zum Beginn der zweiten Intifada beigewirkt hat.
Kinderspiel für Abbas: 2012, Nach nur Sieben Jahren Abbas‘ Herrschaft, betrug die Zahl bereits mehr als 600.000 Siedler im Westjordanland und Ostjerusalem – dass sind 51.000 neue Siedler pro Jahr.
Wie es die palästinensischen Kommunisten treffend gegenüber Kritikpunkt darstellen:
„Unter Abbas‘ Führung vertritt die Palästinensische Autonomiebehörde nicht mehr die Bestrebungen des palästinensischen Volkes. Vielmehr dient sie den Interessen einer parasitären Kapitalistenklasse, die mit der israelischen Besatzung und den internationalen Finanzinstitutionen verbunden ist. Diese Klasse, angeführt von Abbas und seinem inneren Kreis, unterdrückt aktiv die Armen, die Flüchtlinge, die Studenten und die Arbeiter, die von der offiziellen Linie abweichen oder es wagen, die Fahne des Widerstands hochzuhalten. In diesem Zusammenhang spielt die Palästinensische Autonomiebehörde die klassische Rolle einer Kompradoren-Elite: eine lokale Klasse, die mit den Kolonialmächten kollaboriert, um ihre eigene Bevölkerung zu unterdrücken und im Gegenzug ihre Privilegien zu erhalten.“
Abbas wiederhole „Kritik“ an Israel, dem Siedlungsbau, den Angriffen und der Repression waren hierbei weniger als Tropfen auf dem heißen Stein, sie waren die Andeutung von Feuchtigkeit:
Als Abbas 2015 vor der UN-Vollversammlung davon sprach, dass „Israel die Oslo-Abkommen und andere unterzeichnete Abkommen durch seine anhaltenden Verstöße und seine Politik der Annexion und Siedlungstätigkeit zerstört.“, waren westliche Medien zwar schockiert, praktische Konsequenzen gab es jedoch nicht – alle Abkommen blieben bestehen, der Siedlungsbau ging weiter, die Militärpräsenz wurde größer.
Qual der Wahl
Auf die Wahlabsage 2009 folgten die Absagen für die Wahlen 2013 und 2017 – Erst Anfang 2021, nach jahrelangem internationalen Druck und einer vorsichtigen Annäherung zwischen Fatah und Hamas, wurden neue Wahltermine angesetzt: Parlamentswahlen am 22. Mai 2021, Präsidentschaftswahlen am 31. Juli 2021.
Wichtig; die Wahlen sollten für das Westjordanland, Ostjerusalem und Gaza gelten, also zur Gründung einer neuen nationalen Einheitsregierung führen, die die politische Trennung zwischen Gaza und dem Westjordanland beenden sollte:
„Die palästinensischen Parteien verpflichteten sich bereits Anfang Februar 2021 auf die Anerkennung der Wahlergebnisse, die Absicherung des Wahlvorgangs durch offizielle, uniformierte Sicherheitskräfte, die Etablierung eines speziellen Gerichts für wahlbezogene Streitigkeiten (das mit Richterinnen und Richtern aus Westjordanland, Gazastreifen und Ost-Jerusalem besetzt werden sollte) sowie auf die Bildung einer Regierung der nationalen Einheit nach den Wahlen.“ [22]
Drei Wochen vor der Wahl, sprach Abbas dann plötzlich davon, Die Abstimmung könne erst dann stattfinden, wenn sichergestellt sei, dass auch die Wähler im von Israel annektierten Ost-Jerusalem „ihre demokratischen Rechte ausüben dürfen“[23] – die betroffenen Palästinenser in Jerusalem machen ca. 0,12% der palästinensischen Gesamtbevölkerung aus (ca. 6000, 2021).
Die palästinensische Bevölkerung reagierte mit massiven Demonstrationen in Ramallah, Hebron und Jenin über die Verschiebung der Wahl – wobei es klar war, dass der Streitpunkt Ost-Jerusalem, trotz seiner großen symbolischen Bedeutung für die nationale Selbstbestimmung, nicht das tatsächliche Motiv für die Wahlverschiebung war.
Die Hamas, „der im Gegensatz zu Abbas‘ gemäßigter Fatah ein gutes Wahlergebnis vorhergesagt wurde, lehnte die Entscheidung ab und sprach von einem „Putsch“, für den es keinen Rückhalt in der Bevölkerung gebe.“[24] – und das ist wohl ohne Frage eine richtige Einschätzung.
Sowohl Abbas (nicht die Fatah als Ganzes, die mit Barghuthi sehr wohl weiterhin beliebte Kräfte innehatte), die Vereinigten Staaten und Israel konnten nicht riskieren, dass die Hamas, oder prinzipiell jeder, der nicht Mahmoud Abbas ist, die Herrschaft in Palästina übernimmt.
2021 gaben 84% der palästinensischen Repräsentativbevölkerung an, Mahmoud Abbas sei nicht fähig (bzw. „würdig“ laut Umfrage des PSR), das Amt des Präsidenten Palästinas weiterhin zu tragen.
54% gaben indessen an, die Hamas sei die fähigere, bevorzugte herrschende Kraft:
„73 % befürworten die Abhaltung von Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in den palästinensischen Gebieten in naher Zukunft, 23 % lehnen dies ab. Im Gazastreifen sprechen sich 82 % und im Westjordanland 67 % für Wahlen aus. Eine Mehrheit von 56 % (63 % im Gazastreifen und 52 % im Westjordanland) glaubt jedoch, dass in nächster Zeit keine Parlaments- oder Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden werden.“
Hätte die Fatah statt Abbas den inhaftierten Barghouti aufgestellt, hätte dieser trotz lebenslanger Haft voraussichtlich gewonnen:
„If the competition was between Marwan Barghouti and Ismail Haniyeh (Hamas, KP), participation would increase to 66% and from among those Barghouti receives 55% and Haniyeh 39%.“
Und tatsächlich wollte Barghouti, wenn nötig über eine unabhängige Liste, gegen Abbas kandidieren.
Der feinfühlige Demokrat Abbas sagte also die Wahl einfach ab – gut für Israel, denen ein vereintes Palästina unter neuer Führung mit breitem Gesellschaftlichen Rückhalt hervorgestanden hätte, die in jedem Fall den Siedlungsbau in Palästina beendet hätte.
7. Oktober bis jetzt
„Seit fast dreißig Jahren hat sich die politische Strategie der palästinensischen Führung nicht geändert: fortgesetzte Sicherheitskoordination, systematische Unterdrückung des Widerstands, schweigende Normalisierung mit dem Feind und ein stures Festhalten an der Illusion eines “wirtschaftlichen Friedens“. Dies ist nicht nur ein politisches Versagen, sondern eine direkte Komplizenschaft mit dem zionistischen Siedlerkolonialprojekt. Und Mahmoud Abbas ist das prominenteste Symbol für diese Komplizenschaft.“ (Kommunistische Partei Palästina gegenüber Kritikpunkt)
Der 7. Oktober war für Abbas eine vernichtende Zwickmühle, wo gerade die Natur des bewaffneten Angriffs der Hamas direkte Folge der von ihm verhinderten palästinensischen Einheit war.
Laut PCPSR-Umfrage von Ende November/Anfang Dezember 2023 befürworteten 72 % der Palästinenser im Westjordanland und Gazastreifen den Hamas-Angriff auf Israel am 7. Oktober – interessant hierbei ist, dass mehr als 70% der Palästinenser im Westjordanland „bewaffneten Kampf als den besten Weg zur Beendigung der Besatzung“ sahen – 10% mehr als die Bevölkerung Gazas.
Die gesellschaftliche Unterstützung der Hamas war zwischen 2022 und 2023 drastisch gesunken und betrug im Juni 2023 nur noch 27% (Palästina gesamt, „PG“), die Fatah hatte im Gegenzug einen deutlichen Aufschwung auf 24% – eine Entwicklung, die mit wachsender Unzufriedenheit über die materiellen Bedingungen Gazas, der repressiven Regierungsführung der Hamas sowie der verstärkten Repression durch Israel und die internationale Isolation der Hamas-Regierung in Verbindung gebracht wird.
Gleichzeitig profitierte die Fatah von einer verstärkten internationalen Präsenz und diplomatischen Aktivitäten, insbesondere im Westjordanland – auch wenn ihre Legitimität weiterhin durch interne Korruption und das Ausbleiben demokratischer Wahlen infrage gestellt wurde.
Nach dem siebten Oktober verdreifachte sich die Befürwortung der Hamas auf 54% (PG) und die Zufriedenheit mit der Fatah-Führung sank auf ihren tiefsten Wert jemals: 13%. (PG) [25]
Die Unterstützung für den bewaffneten Widerstand im Westjordanland stieg von 54% im Juni 2023 auf 68 % im November 2023. Auch die Zustimmung zur Bildung bewaffneter Gruppen in Gemeinden, die von Siedlern angegriffen werden, wuchs im gleichen Zeitraum von 47% auf 56%.[26]
Die Tatsache, dass gerade dieser brutale, radikale Akt des Widerstands (sehr wohl auch des Terrors, über die Definition haben wir hier ausführlich geschrieben) des 7. Oktobers die Hamas aus ihrer politischen Krise rettete, ist die Folge der „Marionette Israels“ [27], Mahmoud Abbas, und der Politik der PLO unter ihm.
Abbas ist nicht nur ungewählt, sondern ungewollt – seit 2006 regiert er nicht demokratisch legitimiert, sein Klingen an die Herrschaft und Kollaboration mit Israel und den Vereinigten Staaten, hat nicht nur Palästina gespalten, sondern ist die Ursache für das nachhaltige Erstarken der reaktionärsten politischen Kräfte Palästinas, u.a. der Hamas.
Die anhaltende Kooperation der PA unter Abbas mit Israel – etwa in Form gemeinsamer „Sicherheitskoordinierung“, der faktischen Duldung des Siedlungsbaus und der aktiven Repression gegen oppositionelle Kräfte im Westjordanland – offenbart ihren Charakter als abhängiger Verwaltungsapparat innerhalb der imperialistischen Ordnung.
In ihrer Funktion dient die PA der Stabilisierung eines Herrschaftsgefüges, das sowohl die koloniale Besatzung als auch die imperiale Hegemonie westlicher Mächte aufrechterhält. Der 7. Oktober erscheint vor diesem Hintergrund nicht als willkürlicher Gewaltakt, sondern als historische Antithese zur jahrzehntelangen Strategie des Appeasements Abbas‘ und der Unterwerfung unter israelisch-westliche Hegemonie – das macht den 7. Oktober nicht richtig, aber historisch nachvollziehbar.
Wir überlassen das Schlusswort den palästinensischen Genossen:
„Was heute in Gaza, im Westjordanland und an allen Fronten der palästinensischen Konfrontation geschieht, kann nicht von der von Abbas geprägten Entwicklung getrennt werden. Während das palästinensische Volk massakriert wird, schweigt die Palästinensische Autonomiebehörde oder, schlimmer noch, beteiligt sich manchmal an der Legitimierung der Verbrechen durch Rhetorik von „Rationalität“, ‚Weisheit‘ und „Dialog“. Abbas vertritt nicht das palästinensische Volk; er vertritt ein Klasseninteresse, das der Befreiung diametral entgegensteht.
Für uns ist Mahmoud Abbas nicht nur ein Individuum, sondern die Manifestation eines politischen Systems, das jede Legitimität verloren hat und zu einem Funktionsapparat im Dienste des Kolonialismus geworden ist. Dieses System kann nicht reformiert werden, es muss demontiert und durch ein echtes Befreiungsprojekt ersetzt werden, das in der Macht des Volkes verwurzelt ist, das die zentrale Bedeutung des Widerstands in all seinen Formen wiederherstellt und das den nationalen Kampf mit dem Klassenkampf vereint.“
[0] Die Demokratische Front hat dabei den Begriff „revolutionär“ aus ihrer Eigenbeschreibung gestrichen und sich stattdessen als säkulare linke Partei neu definiert. Die Volksfront hat ihrerseits ihre marxistisch-leninistische Ausrichtung aufgeweicht und spricht nun von einer Orientierung an einzelnen marxistischen Ideen, arabischem Nationalismus und allgemeinen humanistischen Werten. Auch die Palästinensische Volkspartei beschreibt sich heute nur noch als säkular.
[1] https://issuu.com/ipcri/docs/the_fatah_constitution
[2] https://www.gsi.uni-muenchen.de/forschung/forsch_zentr/forschung_3_welt/arbeitspapier/ap_562.pdf, S.13
[3] https://www.gsi.uni-muenchen.de/forschung/forsch_zentr/forschung_3_welt/arbeitspapier/ap_562.pdf
[4] Bzw. „Kandidat der Wissenschaften“, das Sowjetische Äquivalent zur Promotion.
[5] https://www.kommersant.ru/doc/538949
[6] Das fehlende Charisma Abbas‘ ist lächerlich häufig betont; in sämtlichen Ausarbeitungen zu Abbas, unabhängig des Quellenursprungs, wird sein „fehlendes Charisma“ betont, in einem Ausmaß, dass wir so noch nie gesehen haben – wir fragen uns; wie kann denn jemand so wenig Charisma haben?
[7] https://marxist.com/palestine-the-failure-of-the-two-state-solution-and-the-communist-alternative.htm
[8] https://www.kas.de/documents/252038/22168750/30+Jahre+Oslo-Abkommen+%E2%80%93+ein+gescheiterter+Friedensprozess.pdf/5a4fcf0f-174c-4cf2-ed21-ef520aab50c8?version=1.1&t=1694434903611
[9] Muriel Asseburg, Der Nahostkonflikt (2016), S. 44
[10] https://www.perplexity.ai/search/der-rapide-ansteigende-siedlun-g8NQiWTGQ8y3E8Ixk88SgA
[11] https://www.spiegel.de/politik/ausland/nach-abbas-ruecktritt-israel-lehnt-zusammenarbeit-mit-arafat-ab-a-264656.html
[12] https://s3.documentcloud.org/documents/815515/expert-forensics-report-concerning-the-late.pdf , S.68 (übersetzt von Kritikpunkt)
[13] https://www.deutschlandfunkkultur.de/palaestina-israel-konflikt-intifada-100.html
[14] https://www.akweb.de/politik/mahmoud-abbas-nachfolge-machtkampf-in-der-palaestinensischen-autonomiebehoerde/
[15] https://webarchiv.bundestag.de/archive/2011/1104/dokumente/analysen/2005/2005_01_10.pdf
[16] https://www.wsws.org/de/articles/2006/01/pala-j26.html
[17] https://www.wsws.org/de/articles/2006/01/pala-j26.html
[18] https://www.sfgate.com/news/article/u-s-training-fatah-in-anti-terror-tactics-2465370.php
[19] https://www.haaretz.com/2010-06-13/ty-article/abbas-to-obama-im-against-lifting-the-gaza-naval-blockade/0000017f-e124-d568-ad7f-f36fc3b80000
[20] https://www.nytimes.com/2006/02/14/world/middleeast/us-and-israelis-are-said-to-talk-of-hamas-ouster.html
[21] https://www.aljazeera.com/news/2011/12/27/palestine-papers-the-secret-negotiations
[22] https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2021A26_Palaestinensisches_Wahljahr.pdf
[23] https://www.dw.com/de/pal%C3%A4stinenser-haben-wieder-keine-wahl/a-57382713
[24] https://www.zeit.de/politik/ausland/2021-04/palaestinenser-wahl-verschiebung-mahmud-abbas
[25] https://www.pcpsr.org/en/node/963
[26] https://www.pcpsr.org/en/node/963
[27] https://jungle.world/artikel/2025/02/israel-hamas-westbank-die-neue-front